Am 16. April spielte der Pianist Lucas Debargue in der Münchner Philharmonie Maurice Ravels Klavierkonzert G-Dur. Im Interview spricht er darüber, wie er sein Leben organisiert, über die Autorität des Notentexts und die hohe Kunst der Improvisation.
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BR-KLASSIK: Sie haben mit elf Jahren mit dem Klavierspiel begonnen, ohne musikalische Familie im Rücken. Wie kamen Sie zum Klavier oder das Klavier zu Ihnen?
Lucas Debargue: Das Leben hat seine eigene Kraft, die man nicht planen und vorhersehen kann. Selbst wenn man mit drei Jahren darauf programmiert wird, Klavierwettbewerbe zu gewinnen, heißt das nicht, dass man wirklich irgendetwas gewinnt – vor allem nicht die Herzen der Menschen. Es gibt so viele bekannte Sänger, die spät angefangen haben, auch Musiker oder Maler. Sie fangen spät an, wissen aber genau, was sie tun. Das Wichtigste ist, überzeugt zu sein von der eigenen Aufgabe. Als ich gemerkt habe, dass es mit der Musik ernst wurde – so mit zwanzig, einundzwanzig – ging es mir sehr gut damit. Ich war bereit dafür, die Konsequenzen und die Verantwortung zu tragen. Ich kann mir einfach sehr schwer ein Kind von vier oder fünf Jahren vorstellen, das wirklich sicher ist, Musik machen zu wollen. Das ist dann mehr der Traum der Menschen um dieses Kind herum, der Eltern und Lehrer.
BR-KLASSIK: Jetzt haben Sie durch Ihren vierten Platz beim Tschaikowsky-Wettbewerb ein anderes Leben gewonnen. Ist das für Sie eine Einschränkung Ihrer Freiheit? Oder finden Sie, dass Ihnen diese Fokussierung guttut?
Lucas Debargue: Erst kürzlich ist mir klargeworden, wie strukturiert ich bin, dass die Musik meine Seele strukturiert, meine Gedanken. Diese ganzen Konzerte zu haben, ist eine starke Grundlage. Ich bin verpflichtet, mein Leben so zu organisieren, dass ich jederzeit in der Lage bin, Konzerte zu geben – neue Programme zu erarbeiten, alte wieder aufzufrischen. Es ist aber nicht das einzige, was ich tue. Ich verbringe so viel Zeit wie möglich mit Komponieren – ich will jeden Tag als Übung etwas im alten Stil komponieren, um zu überprüfen, ob noch alles vorhanden ist in meinem Kopf.
Ich habe so meine Tricks. Ich weiß, wie ich ein Programm vorbereite.
BR-KLASSIK: Schreiben Sie dann Fugen wie Bach?
Lucas Debargue | Bildquelle: Felix Broede Sony Music Entertainment Lucas Debargue: Ja, ich versuche, auf diesem Niveau zu arbeiten. Ich habe das aber nie gelernt. 2011 habe ich begonnen, Klavier zu studieren, um das höchste Niveau zu erreichen. Mit dem Komponieren habe ich erst vor zwei, drei Jahren angefangen. Da liegt noch ein weiter Weg vor mir. Ich kann noch kein Opus 1 vorlegen. Anders auf dem Klavier, da habe ich eine neue Dimension erreicht. In den letzten zwei Jahren habe ich zweihundert Konzerte gespielt – ich habe so meine Tricks. Ich weiß, wie ich ein Programm vorbereite. Das ändert meine Vision. Die ersten zwei Jahre nach dem Tschaikowsky-Wettbewerb fielen mir sehr schwer; ich hatte einfach keine Ahnung von diesem Leben. Inzwischen hab ich es einigermaßen verstanden und gewinne wieder Freiräume für anderes, und da steht das Komponieren an erster Stelle.
BR-KLASSIK: Wie bereiten Sie denn ein Programm vor? Da gibt es ja viele Wege.
Lucas Debargue: Alles, was wir zu einem Stück wissen müssen, steht in den Noten. Das ist auch alles, was wir haben. Ja, wir können Biographien und Briefe lesen, aber die sogenannte "stilistische Tradition" ist eine Illusion. Woher sollen die Leute wissen, wie es früher wirklich war? Man kann Frédéric Chopin nicht treffen und fragen, was er über diese oder jene Art von Rubato denkt. Der Schlüssel, um die Gefühle zu vermitteln, heißt Freiheit. Man muss die spezielle Freiheit in jedem Stück finden. Es geht nicht darum, durch die Musik über sein eigenes Leben, seine eigene Persönlichkeit zu erzählen. Umgekehrt: Es geht darum, sich von der Musik einnehmen zu lassen.
BR-KLASSIK: Sie improvisieren viel. Hilft Ihnen das, diese Freiheit auszuschöpfen?
Lucas Debargue: Improvisation ist für mich wirklich die höchste musikalische Kunst. Improvisieren heißt ja nicht, mit den Klaviertasten zu machen, was man will. Es geht darum, eine Synthese aller musikalischen Elemente zu erreichen. Man muss sehr viel und hart üben, um ein hohes Niveau beim Improvisieren zu erreichen. Dann bekommen die Zuhörer die Illusion, dass das, was man spielt, komponiert wurde. Gleichzeitig entsteht das Gespielte ja im Moment des Spielens. In diesem Moment ein wirkliches Musikstück zu erzeugen, das ist für mich die höchste Kunst eines Musikers.
Montag, 16. April 2018, 20:00 Uhr
München, Philharmonie im Gasteig
Camille Saint-Saëns: "Danse macabre" – Symphonische Dichtung g-moll op. 40
Maurice Ravel: Konzert für Klavier und Orchester G-Dur
Peter I. Tschaikowsky: Symphonie Nr. 3 D-Dur op. 29 "Polnische"
Lucas Debargue (Klavier)
Russian National Orchestra
Leitung: Mikhail Pletnev
Sendung: "Leporello" am 16. April 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK