Es war ein Freitag in New York. Mariss Jansons und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks geben ein Konzert in der Carnegie Hall. Der Dirigent: gesundheitlich schwer angeschlagen. Aber dieses Konzert zieht er durch als wüsste er, dass es das letzte vor seinem Tod ist. Der Konzertmeister Anton Barakhovsky erinnert sich.
Es ist Konzertpause an diesem Freitagabend, am 8. November 2019. Anton Barakhovsky wird ins Dirigentenzimmer der New Yorker Carnegie Hall gebeten. Dort sitzt Mariss Jansons völlig erschöpft am Tisch. Der Orchestermanager Nikolaus Pont und der Direktor der Carnegie Hall Clive Gillinson haben erfolglos versucht, den Dirigenten zu überzeugen: Er soll das Konzert abbrechen. Doch Jansons denkt gar nicht daran. Jetzt versucht es Anton Barakhovsky – auf Russisch, der Sprache, die Jansons seit seiner Jugend vertraut ist. Tatsächlich scheint Abbrechen in diesem Moment das einzig Vernünftige zu sein. "Er war total erschöpft und wahnsinnig müde", erinnert sich der Konzertmeister.
Spielen Sie, als wäre es Ihr letztes Konzert!
Niemand aus dem Orchester ahnte, dass es das letzte Konzert mit dem langjährigen Chefdirigenten sein würde. Natürlich, Jansons war herzkrank. Schon lange. Aber gerade vor der USA-Tournee hatte er wieder so viel Elan gezeigt, mit derselben Detailverliebtheit und Präzision geprobt, die das Orchester über all die Jahre an ihm so geschätzt hat. "Spielen Sie, als wäre es Ihr letztes Konzert", war ein Satz, den Mariss Jansons den Musikern regelmäßig ans Herz legte. Jetzt bekam der Satz plötzlich eine andere Bedeutung.
Letztes gemeinsames Konzert: Mariss Jansons und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 8. November 2019 in der Carnegie Hall | Bildquelle: Astrid Ackermann/BR Ja, man hatte sich daran gewöhnen müssen, dass es Jansons gesundheitlich immer wieder schlecht ging. Das war seit zwölf Jahren so. Aber in seiner Arbeit ließ sich Jansons nie etwas anmerken. Er fühlte sich verantwortlich – gegenüber der Musik, dem Publikum und dem Orchester. Deswegen machte er weiter. Immer wieder.
Bei den Proben und Konzerten war er ein anderer Mensch – immer zu zweihundert Prozent da.
Doch an diesem Abend ist etwas anders als sonst. Auch dem Publikum muss aufgefallen sein, wie schlecht es Mariss Jansons auf der Bühne geht. In der Kritik der "New York Classical review" heißt es, Jansons habe in der ersten Hälfte kaum die Arme auf Pulthöhe heben können.
Am 6. November 2020 erscheint das letzte Konzert von Mariss Jansons und dem BRSO auf CD. | Bildquelle: BR "Geben Sie mir einfach ein bisschen mehr Zeit." Das ist alles, was Jansons in der Konzertpause zu Anton Barakhovsky sagt. Die Pause in der Carnegie Hall wird um zwanzig Minuten verlängert. Dann erscheint Mariss Jansons tatsächlich zur zweiten Konzerthälfte auf der Bühne. Anton Barakhovsky hat es nicht geschafft, ihn davon abzuhalten. Jetzt ist es als Konzertmeister seine Aufgabe, Jansons gut im Auge zu behalten und das Konzert notfalls abzubrechen. Mariss Jansons aber lächelt seine Musikerinnen und Musiker an: "Alles ist gut", sagt sein Blick. Jansons dirigiert voller Hingabe und Emotion, aber die Erschöpfung ist ihm ins Gesicht geschrieben. Sogar von der geplanten Zugabe, Brahms' Ungarischem Tanz Nr. 5, lässt er sich nicht abhalten. Barakhovsky ist wütend: "Herr Jansons, jetzt wird gar nichts mehr gespielt! Wir gehen jetzt", sagt er auf der Bühne während das Publikum applaudiert. Jansons' Antwort lautet nur: "Ja, und warum?"
Man sah, dass er mit letzter Kraft alles gab.
Es wird Jansons' letzte Zugabe, sein letztes Konzert. Für den nächsten Abend sagt er ab – und auch für alle folgenden Termine. Er reist zurück in seine Wahlheimat St. Petersburg. Wenige Wochen später, am 1. Dezember 2019, stirbt der Chefdirigent des BRSO.
Jetzt, ein Jahr nach dem bewegenden Abend in der Carnegie Hall, erscheint die Aufnahme des Konzerts auf CD: "His Last Concert". Für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist dieser Mitschnitt mit starken Emotionen verbunden – und mit Erinnerungen. Erinnerungen an einen Mann, der in der Musik lebte. Anton Barakhovsky erzählt: "Mariss Jansons ließ nicht nur spielen, sondern hat alle mitgezogen und begeistert." Die Beziehung zum BRSO war für Mariss Jansons eine ganz besondere. "Es war einfach Liebe – Liebe zwischen dem Orchester und dem Dirigenten", sagt Anton Barakhovsky. Deswegen kam Aufgeben am 8. November 2019 in der Carnegie Hall für Jansons auch nicht in Frage. Es hätte bedeutet, sich selbst aufzugeben – und seine Liebe.
Richard Strauss:
4 Symphonische Zwischenspiele aus Intermezzo op. 72
Johannes Brahms:
Symphonie Nr. 4 op. 98
Ungarischer Tanz Nr. 5
Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Mariss Jansons
Label: BR-KLASSIK
Veröffentlichung: 6. November 2020
Im BR-Shop erhältlich.
Sendung: "Allegro" am 6. November 2020 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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