Der jüngste Bericht des Weltklimarats ist alarmierend. Was kann man tun, um immer mehr Menschen den Ernst der Lage nah zu bringen? In der Schweiz formiert sich eine internationale Szene, die Musik und Klangkunst mit einem Bezug zum Klimawandel komponiert. Die Grundlage sind wissenschaftliche Daten oder ökoakustische Aufnahmen. So bekommen Insekten, Stürme, schmelzende Gletscher oder sterbende Bäume eine Stimme.
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Chuchchepati Orchestra - Palace St. Gallen, 2020 | Bildquelle: Kasimir Höhener
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Tropenhaus, Botanischer Garten St. Gallen, 2021 | Bildquelle: Kasimir Höhener
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Musikfestival Bern, 2021 - Installation im Progr Bern | Bildquelle: Kasimir Höhener
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Musikfestival Bern, 2021 - Dampfzentrale Bern | Bildquelle: Kasimir Höhener
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Mit 32 Lautsprechern aus Kathmandu gibt das Chuchchepati Orchestra um den Musiker Patrick Kessler Insekten und Gletschern eine hörbare Stimme. | Bildquelle: Sebastian Rüger
Es hört sich an wie ein Gleichschritt. Tschak Tschak Tschak – dröhnt es aus tubenförmigen Lautsprechern auf einer Wiese im Schweizer Appenzell. "Das ist ein Warnsignal von Ameisen", erklärt der Musiker und Klangkünstler Ludwig Berger. Auch Läuse oder Zwergzikaden kommunizieren über komplexe Rhythmen und Melodien. Berger nutzt solche Sounds, die von Biologen mit Lasermikrofon aufgenommen werden, für seine künstlerischen Arbeiten. Diesen "Insect-Drummers" – wie sie in der Biologie heißen – verhilft er auch live mit dem Chuchchepati Orchestra zu unvergesslichen Auftritten.
Es ist auch ein Manifest: Wir geben Insekten eine Stimme.
Das Chuchchepati Orchester wurde von dem Schweizer Kontrabassisten Patrick Kessler gegründet und tritt mit wechselnder internationaler Besetzung auf. Immer dabei: die 32 Lautsprecher aus Kathmandu. Chuchchepati ist Nepali und bedeutet "Horizont". Wenn das Orchester mit den Insekten Sounds oder auch mit den Klängen aus dem Innenleben eines schmelzenden Gletschers auftritt – dann erweitert es den Horizont unserer Wahrnehmung. Die vom Klimawandel verursachten Veränderungen in der Natur werden zu musikalischen Erlebnissen.
Mit 32 Lautsprechern aus Kathmandu gibt das Chuchchepati Orchestra um den Musiker Patrick Kessler Insekten und Gletschern eine hörbare Stimme. | Bildquelle: Sebastian Rüger Auch die Wolkenbildung, die sich durch den Klimawandel verändert, wird zu Klang. Der Schweizer Musiker und Umweltwissenschaftler Marcus Maeder baute im September 2021 für das Festival "Klang Moor Schopfe" im Schweizer Appenzell eine Klanginstallation, die von einem "Wolkenspiegel" inspiriert ist. Das Instrument aus dem 19. Jahrhundert diente zur Messung der Richtung und Geschwindigkeit von Wolkenbewegungen. Maeders Installation filmte 12 Himmelsausschnitte und übersetzte die gemessenen Farbtiefen in einen Ton, der sich entsprechend der Wolkenbildung veränderte. Dieser Ton war für ihn Ausgangspunkt eines Konzertes.
Wenn durch den Klimawandel immer weniger Wolken gebildet würden, würde die Installation immer eintöniger klingen, weil überall der fast gleiche Farbton im Himmel gemessen würde.
Andere wissenschaftlich-künstlerische Arbeiten und Kompositionen übersetzen den Durst der Bäume in Klangerfahrungen. Sie machen die Vielfalt von Lebewesen in Wiesen und Äckern hörbar oder verwandeln Messdaten über Temperatur, Feuchtigkeit im Boden oder CO2 –Konzentrationen in der Luft in Chor-Konzerte. Wie beispielsweise das Projekt "Try to Turn the Wind": Vor den Regierungsgebäuden in Den Haag fordert Cathy van Ecks Klima-Klanginstallation die Menschen auf, in Richtung Politik zu pusten und den Wind zu drehen.
Das Musikfeature "Il lamento della natura" von Bettina Mittelstraß über Klagelieder mit Bäumen, Gletschern und Insekten läuft am 25. März um 19:05 Uhr und am 26. März 2022, um 14.05 Uhr im Hörfunk von BR-KLASSIK.
Für die Recherchen erhielt Bettina Mittelstraß ein Stipendium im Rahmen von "NEUSTART KULTUR".