Charmant und unprätentiös: Hier treffen sich Musikerinnen und Musiker von jung bis alt, Nachwuchs und Stars. Der Dirigent Paavo Järvi lädt zum Pärnu Music Festival in Estland – ein Ort, an dem er als Junge prägende Sommer verlebt hat.
Bildquelle: Kaupo Kikkas
Selten ist der Schauplatz eines internationalen Musikfestivals so "klein" im besten Sinne geblieben, so tiefenentspannt, so lächelnd ruhig. Gewiss, das "Pärnu muusikafestival", wie es auf Estnisch heißt, findet in der heutigen Form "erst" zum 13. Mal statt. Aber die Historie der Stadt als Sommerresidenz von Musik und Musikern reicht wesentlich weiter zurück. Dass freilich die Zeit seit 2011 eine kontinuierliche Erfolgsgeschichte werden konnte und das Festival heute einen besonderen Ruf besitzt, hat es dem Dirigenten Paavo Järvi zu verdanken, der seither als Künstlerischer Leiter fungiert. Und der genau hier in Pärnu als Junge prägende Sommer verlebt hat.
In berühmteren Festspielhochburgen regieren oft Lärm und Trubel, die der Kunst auf den Pelz rücken. Es mag wohl auch an der estnischen Mentalität liegen, dass man im Gegensatz dazu in Pärnu noch den Eindruck gewinnt, die Musik könne aus der vorhandenen Stille erwachsen. Ablenkungen gibt es wenige, davon profitiert auch das Publikum. Herrlich aus der Zeit gefallen und doch auch behutsam modernisiert, so erscheint Pärnu mit seinen rund 52.000 Einwohnern heute – und selbst der drei Kilometer lange, seichte Sandstrand ist nicht überlaufen.
Im Juni 86 Jahre geworden: Neeme Järvi, Vater von Paavo und Kristjan Järvi | Bildquelle: Kaupo Kikkas 1251 vom Deutschen Orden unter dem Namen Pernau gegründet, nahm die Hansestadt an der nordöstlichen Rundung des Rigaer Meerbusens seit 1838 einen Aufschwung als Bade- und Kurort. 1918 wurde nicht etwa in Tallinn, sondern hier die Unabhängigkeit vom revolutionär zerfallenen Zarenreich ausgerufen. Die installierte Republik fand dann 1940 mit der Besatzung durch die Rote Armee ihr vorläufiges Ende. In Sowjetzeiten gab es keinen "westlicheren" Ort als Pärnu, hier traf sich im Sommer auch die musikalische Elite: Der große Geiger David Oistrach veranstaltete schon ein kleines Festival, ein berühmtes Foto zeigt den Jungen Paavo mit seinem Vater, dem Dirigenten Neeme Järvi, und dem musikalischen Übervater Dmitri Schostakowitsch, der hier gleichfalls Urlaub machte.
Das Pärnu Music Festival in Estland findet vom 12. bis 21. Juli 2023 statt.
Webseite: parnumusicfestival.ee/en/home/
Kristjan Järvi präsentiert mit seinen Musikerinnen und Musikern die "Babylon Berlin"-Filmmusik | Bildquelle: Kaupo Kikkas Auch viele andere Größen der russischen Musikszene gingen im Hause Järvi ein und aus, der Cellist Mstislav Rostropovich etwa. 1980 freilich gelang den Järvis die Emigration in die USA. Desto enger aber ist die Dynastie heute wieder mit der alten, seit 1991 erneut unabhängigen Heimat verwurzelt. Neeme, im Juni 86 geworden, hat das Eröffnungskonzert 2023 mit Musik von Mozart, Haydn und neu komponierten Haydn-Reflektionen aus der Feder seines 1988 geborenen Großneffen Madis Järvi dirigiert. Und auch Neemes jüngerer Sohn Kristjan, Paavos Bruder und gleichfalls Dirigent, war mit seiner Baltic Sea Symphony zu Gast, um einen umjubelten Vorlauf der "Babylon Berlin"-Filmmusik im Konzertsaal zu präsentieren: Kristjan ist in die Produktion der preisgekrönten TV-Serie involviert, hat die Musik von 16 Episoden selbst aufgenommen und ist also der richtige Mann, sie auch live aufzuführen. (Connaisseurs können sich bereits Karten für die Berliner Konzerte im September im Theater des Westens sichern.) Anschließend gab’s einen „Afterglow“ mit den DJs Martin Saar, Marnisch und Kristjan Järvi selbst. Paavos und Kristjans Schwester Maarika spielt weiterhin Flöte im Festivalorchester, genauso wie weitere Verwandte.
Ja, das Festivalorchester: Das Estonian Festival Orchestra (EFO) ist Pärnus Herz- und Glanzstück. 2011 von Paavo Järvi gegründet, vereint es Mitglieder des Kammerorchesters Tallinn mit dem besten estnischen Nachwuchs und nicht zuletzt Spitzenmusikern aus all jenen Klangkörpern, mit denen Järvi eng zusammengearbeitet hat. Aus 19 Ländern von Europa bis Japan und Australien kommen die jungen und schon erfahrenen Leute, und viele von ihnen spielen in jenen Klangkörpern, bei denen Paavo Järvi Chefdirigent war oder ist: Bremen, Frankfurt, Paris, Zürich, Tokio. Nach dem starken estnischen Kern stellt deshalb Deutschland als zweitgrößte Gruppe mehr als ein Viertel des EFO. Als Konzertmeister fungiert Florian Donderer, in dieser Funktion 30 Jahre lang in der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen tätig sowie seit 2016 auch als Primarius des Signum Quartetts. Er arbeitet nicht zuletzt mit der Kammermusikformation des Orchesters. Solistisch sind unter anderem die Cellistin Amanda Forsyth, der Oboist François Leleux und der Pianist Fazıl Say zu Gast.
Der ideelle Kern des Pärnu Music Festival ist also die Ausbildung, das Lernen von den Großen und das Profitieren der älteren von jugendlicher Energie: Das macht das Festival so beglückend. Unermüdlicher Elan des Nachwuchses, dosiert und mitgelenkt durch die Vorbildwirkung erfahrener Stimmführer – und dazu Paavo Järvi als ein Spiritus Rector am Pult, der sich der Musik mit großer Repertoirekenntnis und zugleich stets sach- und werkdienlich nähert und mit den Ausführenden unprätentiös-kollegial umgeht: Pärnus Erfolgsrezept klingt einfach, ist aber keineswegs selbstverständlich. Schon gar nicht in dieser Qualität. Neue Musik, nicht allein aus Estland, Raritäten quer durch die Musikgeschichte und natürlich die großen Werke des Repertoires von der Kammermusik bis zur Orchesterliteratur: Durch Stile und Epochen beweist sich die hier versammelte Interpretenschar.
Schauen gemeinsam in die Partitur: Paavo Järvi und der Komponist Jüri Reinveres | Bildquelle: Kaupo Kikkas Und mit originellen Programmen. Die beiden Konzerte unter Paavo Järvi am 16. und 17. Juli 2023 stellten zwei Werke in jeweils andere Zusammenhänge, die Uraufführung von Jüri Reinveres "On the Ship of Fools" und Richard Strauss' "Tod und Verklärung". Reinveres düsteres und doch schattenhaft-leichtgewichtiges, ernstes Scherzo war da einmal die Vorbereitung zu Strauss’ Fieberschüben und Jenseitsopulenz, um am anderen Abend zusammen mit Alban Bergs "Sieben frühen Liedern" eine subtile, eher wehmütige als katastrophische Endzeitstimmung zu schaffen. In die gliederte sich die Sopranistin Mirjam Mesak mit grazilem, aber tragfähigem Sopran als Prima inter pares ein.
Dass kein Geringerer als Pinchas Zukerman am Vorabend seines 75. Geburtstags eine souveräne Leistung als Bratschensolist in Hector Berlioz’ zuletzt ekstatischem "Harold en Italie“ bot, verwunderte da ebenso wenig wie das kollektive "Happy Birthday", das ihm nach einer entrückten Telemann-Zugabe von Orchester und Publikum entgegenschallte – und seine Beteuerung, nach diesem späten Debüt rasch wiederkommen zu wollen, unbedingt auch als Lehrer: Das Lernen von den Großen im Pärnu geht gleichsam wie von selbst weiter.
Entspannt bei einer Probe: Dirigent Paavo Järvi und Pinchas Zukerman | Bildquelle: Kaupo Kikkas Auch das Familiäre, Vertraute, das hinter der Bühne regiert, setzt sich über das Podium hinaus fort. Im heimlichen Festival-Hauptquartier, dem in die Fußgängerzone überquellenden Café Passion, herrscht zwanglose Feierlaune: Orchestermitglieder, Teilnehmer der Järvi-Dirigierakademie, die in diesem Jahr 16 Studierende aus fünf Kontinenten in Pärnu weiterbildet, Publikum und internationale Journalisten essen und trinken zusammen. Privatgespräche wandeln sich zu Interviews und umgekehrt. Und wenn der estnische Staatspräsident Alar Karis für ein Konzert in Pärnus Konzerthaus zu Gast ist, dann kommt der nicht mit großem Bahnhof, rotem Teppich und reichlich Schaulustigen, sondern in jeder Hinsicht gediegen, dezent – und ohne Krawatte. Promis, das sind hier gerade einmal die Mitglieder der Familie Järvi, will einem Beobachter von außen scheinen. Und die sind so nahbar geblieben wie eh und je. Das Publikum aus allen Altersgruppen, von Kindern über viele Jugendliche und Erwachsene, lauscht konzentriert, um dann zu jubeln.
Und dass Paavo Järvi am zweiten Abend auf "Tod und Verklärung" sozusagen dessen populär-diesseitige Kurzfassung folgen ließ, Josef Strauss' grandiosen, freilich gut 20 Jahre älteren Walzer "Delirien", war wie das ganze Festival: charmant und unprätentiös.
Sendung: "Allegro" am 18. Juli 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Mittwoch, 19.Juli, 16:20 Uhr
Beate Schwärzler
Das "Pärnu Music Festival" in Estland
mit Paavo Järvi und seiner Familie
läßt mich glauben, daß es irgendwo auf der Welt noch Musik zu hören gibt, ... ganz einfach
Musik und nur Musik, die die Ausweglosigkeit meiner Umgebung vergessen läßt.