Als "Kauz am Klavier" wurde er einst bezeichnet: der Pianist Anatol Ugorski. In der Sowjetunion machte er sich für die westliche Avantgarde stark und fiel in Ungnade. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde er berühmt. Nun ist Ugorski im Alter von 80 Jahren gestorben.
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Er war ein ungewöhnlicher Asylbewerber. Gern hätte er Beethoven und Boulez, Skrjabin und Scarlatti geübt, aber er hatte keinen Flügel. Er hatte ja nicht einmal einen Tisch. Es war im Jahr 1990. Die Mauer war bereits gefallen, aber die DDR gab es noch – wenn auch nur noch für wenige Monate. Ausgerechnet nach Deutschland war Anatol Ugorski geflohen.
Zuhause in St. Petersburg (das damals, in der Zeit der Übergänge, noch wenige Monate Leningrad hieß) gab es vermehrt antisemitische Übergriffe. An Häuserwänden standen antisemitische Parolen. Ugorskis Tochter Dina, die selbst eine begnadete Pianistin werden sollte, wurde in der Schule attackiert. Ugorski entschloss sich zur Flucht aus seiner Heimat Russland. Und fand Aufnahme in Deutschland.
Er hätte sich auch vorstellen können, nach Israel zu gehen, meinte er, aber Deutschland sei ihm näher gewesen – wegen der Musik. Auch ein Flügel zum Üben fand sich, zur Verfügung gestellt von der erfolgreichen amerikanischen Schriftstellerin Irene Dische, die damals in Westberlin lebte. Sie war es, die Ugorski den Kontakt zur Deutschen Grammophon herstellte.
Nicht weniger als 13 Alben veröffentlichte Ugorski beim gelben Renommierlabel in den folgenden Jahren. Im Westen war Ugorski bis dahin nahezu unbekannt gewesen. Nun, mit über 50 Jahren, öffneten sich ihm in Westeuropa und den USA die großen Bühnen. Ein später, aber umso triumphalerer Erfolg, den er in jungen Jahren erträumt und allemal verdient hatte, der aber in der Sowjetzeit völlig außerhalb des Vorstellbaren lag.
Denn Ugorski war als junger Mann bei den Kulturpolitikern der Partei in Ungnade gefallen. Sein Vergehen: Neugierde auf die westliche Avantgarde. Als Pierre Boulez 1968 ein Konzert in Leningrad geben durfte, hatte Ugorski begeistert geklatscht. Zu begeistert, befanden Kulturoffizielle der Partei. Der Applaus wurde als politische Demonstration gewertet. Der erfolgreiche junge Pianist musste sich vor einem Komitee verantworten. Für mehr als ein Jahrzehnt durfte er nur noch vor Schulklassen in der Provinz auftreten. Erst 1982 fiel das Verdikt: Ugorski wurde schließlich doch noch am Leningrader Konservatorium, wo er einst studiert hatte, zum Professor berufen.
Musik hören ist für mich nicht die Hauptform der Auseinandersetzung mit Musik. Ich kann mir Musik einfach vorstellen.
Kam als Asylbewerber nach Deutschland: der Pianist Anatol Ugorski | Bildquelle: picture-alliance / dpa | Hermann Wöstmann Als einer der ersten in der Sowjetunion spielte er Schönberg, Berg, Messiaen und Boulez. Seine spätere Gesamteinspielung des monumentalen "Catalogue d’oiseaux" von Olivier Messiaen auf drei CDs ist ein Kontinent für sich, voller pianistischer und vogelkundlicher Wunder. Ugorski war eben nicht nur einer der technisch brillantesten Pianisten seiner Generation, sondern auch ein überaus witziger, inspirierter, ja im besten Sinne "ver-rückter" Musiker. Kein Wunder, dass er sich zu extremer Musik hingezogen fühlte: Etwa zu Skrjabin und spätem Beethoven. Die Diabelli-Variationen hat er mit großartigem Sinn für Beethovens überirdische Schrulligkeit eingespielt. Aber auch Chopin und Schumann spielte er mit fesselnder Erzählergabe.
Humor versprühte er auch im Alltag. Und gern kultivierte er seinen Sinn für Exzentrik. Ich erinnere mich gut an ein Publikumsgespräch mit ihm, das ich moderieren durfte. Ugorski erschien in allenfalls fragmentarisch erhaltenen Sandalen. Die habe er noch aus Russland mitgebracht, verkündete er stolz. Seine Tochter Dina schimpfte, wollte ihn nach Hause schicken. Vergebens. Mit schalkhaftem Lächeln meinte er, die Leute würden ihm das verzeihen. Und das taten sie, denn Ugorski war ein überaus charmanter und pointensicherer Erzähler.
Als Professor in Detmold und als Juror beim ARD-Musikwettbewerb gab er sein Können an die junge Generation weiter. Doch über seinen letzten Jahren lag ein Schatten: Seine Tochter Dina Ugorskaja, eine ebenfalls überragende Pianistin, verstarb viel zu früh im Jahr 2019 an Krebs. Vier Jahre vor ihrem Vater, der nun nach Angaben seiner engen Freundin, der Autorin Irene Dische, im Alter von 80 Jahren verstorben ist.
Sendung: "Leporello" am 6. September 2023 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Donnerstag, 07.September, 16:40 Uhr
Beate Schwärzler
Anatol Ugorski - Ein "Kauz am Klavier"
Schade, daß man von so ganz besonderen, aber schwer einzuordnenden Menschen erst erfährt, wenn sie nimmer da sind.
Anatol Ugorski - nein, kannte ich nicht.
Das Spiel seiner zu früh verstorbenen Tochter Dina Ugoskaja auf dem Klavier aber, -
d a s habe ich noch in guter Erinnerung.
Mehr Mut zu Käuzen, d a s wünsche ich manchmal.