Heute Abend beschließt die Bratschistin Tabea Zimmermann, eine so kreative wie gewinnende Musikerin, ihre Residenz beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Mit einem Herzensprojekt: Vom Bratschenpult aus leitet sie eine große Streichergruppe in antifaschistischen Werken von Hartmann, Britten und Schostakowitsch – ohne Dirigent. BR-KLASSIK überträgt das Konzert ab 20:05 Uhr live im Radio.
Bildquelle: Rui Camilo
Knapp 50 Streicher aus dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bilden einen Halbkreis auf der Bühne der Münchner Isarphilharmonie im Gasteig HP8, nur der Platz des Dirigenten ist leer – ein ungewohnter Anblick. Die Musikerinnen und Musiker spielen in engem Blickkontakt mit Tabea Zimmermann, die gegenüber von Konzertmeister Anton Barakhovsky die Bratschengruppe anführt. Ein urdemokratischer Akt, der die Eigenverantwortung aller Orchestergruppen, ja jedes einzelnen Mitglieds herausfordert. Auf dieses Experiment hat sich Tabea Zimmermann zum Abschluss ihrer Residenz beim BRSO eingelassen – mit der ihr eigenen Energie und Empathie.
BR-KLASSIK: Frau Zimmermann, Sie beenden ihre Residenz beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit einem ganz besonderen Konzertprojekt: Sie leiten ein Streichorchester vom Bratschenpult aus. Gerade ist die Generalprobe über die Bühne gegangen. Was für ein Gefühl haben Sie? Wie zufrieden sind Sie?
Tabea Zimmermann: Ich bin total glücklich, dass ich diese Woche mit diesem wunderbaren Orchester und diesen fantastischen Kolleg:innen machen konnte. Denn ich bin mit großem Herzklopfen angereist – kein Wunder bei dem Programm mit Hartmanns Vierter Symphonie, Brittens "Lachrymae" und Schostakowitschs achtem Streichquartett. In der direkten Vorbereitung, in den Tagen vor der Anreise habe ich gedacht: Wow, wie sollen wir das schaffen? Die Proben sind zu knapp usw. Ich kam mit einer richtigen Angst hierher, "Schiss" würde man das besser nennen. (lacht) Und dann habe ich von der ersten Probe an erlebt, wie alle Musiker:innen, die jetzt mitspielen, einfach genau das wollen: dieses Miteinander, gemeinsam den Puls finden, mit den Kolleg:innen zu einer klanglichen Einheit verschmelzen. Es war eine unglaubliche Konzentration bei der Arbeit, aber wir haben auch richtig geschuftet die letzten Tage. Ich kann nur sagen: Ich war jetzt schon sehr, sehr glücklich und freue mich unheimlich auf die zwei Konzerte. Aber der Herzschlag ist die ganze Woche schon leicht erhöht (lacht).
Der Herzschlag ist die ganze Woche schon leicht erhöht.
Am 21. April 2023 sendet BR-KLASSIK an 20:05 Uhr das Konzert der Bratschistin Tabea Zimmermann beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks live im Radio.
BR-KLASSIK: Ich stelle mir das praktisch gar nicht so leicht vor. Wahrscheinlich sind Sie da in engem Blickkontakt mit dem Konzertmeister und den Stimmführern?
Bildquelle: Marco Borggreve Tabea Zimmermann: Ja, das Stichwort Konzertmeister ist sehr wichtig. Ich fühle mich bei diesen Leitungswochen von der Bratsche aus als Spiegel-Konzertmeisterin und brauche aber eben den starken, führenden Konzertmeister. Und wir haben das gleich in der ersten Probe gut miteinander austariert, wer was wo macht. Also letztlich müssen wir ja vom Ohr aus reagieren. Aber dazu muss man die Partitur auch kennen und wissen: Wer führt wann wo? Führen mit einer geistigen Kraft und nicht mit einer visuellen Ansage, das ist eigentlich so meine Wunschvorstellung – und ich bin total begeistert, wie das hier klappt. Aber das geht nicht überall. Ich habe etliche Projekte von der Bratsche aus geleitet, aber dann meist mit kleineren Kammermusikgruppen, wo man sich überall sehen und hören kann. Aber in dieser großen Streicherbesetzung mit so einem fantastischen Profiorchester habe ich das noch nicht machen können. Und das ist ein Glück.
BR-KLASSIK: Diese Art zu musizieren passt wahrscheinlich gut zu ihrem generellen Musikverständnis – nämlich, dass die Kammermusik für Sie die Keimzelle allen Musizierens ist?
Tabea Zimmermann: Das war ja auch der Grund, weswegen wir diese Woche hier als Teil der Residency geplant haben. Im Dezember hatte ich ja die wunderbare Gelegenheit, mit Iván Fischer das Violakonzert von William Walton zu spielen und dann im Februar bei der musica viva die Uraufführung von Nikolaus Brass zu realisieren. Und am Mittwoch habe ich noch ein "Watch This Space"-Konzert mit Mitgliedern des Orchesters im Münchner Werksviertel gegeben – mit zwei Bratschenquartetten! Und mit Magdalena Hoffmann und Henrik Wiese noch zwei Trios für Flöte, Bratsche und Harfe gespielt. Das war, glaube ich, auch ein schönes Erlebnis. Und so war das jetzt die Woche der Kammermusik – in kleineren und größeren Formationen.
BR-KLASSIK: Für die größere Formation, die Sie jetzt präsentieren, haben Sie ein ganz besonderes Programm zusammengestellt. Ich denke, Schostakowitschs Widmung seiner Kammersymphonie könnte als Motto über dem ganzen Abend stehen: 'Im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges'?
Tabea Zimmermann: Das war mir wichtig in unserer Zeit, jetzt ein Konzert als eine Art Mahnung zu geben. Ich finde, alle drei Werke beklagen und beweinen die schlimmen Kriegszustände, die totale Zerstörung in allen Facetten. Man kann das überall hören. Mir war besonders wichtig, auch die Streichersymphonie von Karl Amadeus Hartmann zu machen. Ich finde, er wird in Deutschland viel zu selten gespielt, und seine Bedeutung für den Bayerischen Rundfunk ist so groß, dass ich dachte, wenn ich zum Symphonieorchester komme und Hartmann aufführe, kennen die das bestimmt – und war dann überrascht zu sehen: Das wird hier eigentlich auch selten gespielt. Ich finde diese Vierte Symphonie unglaublich stark in ihrem Ausdruck, in ihrer Tiefe, aber auch wirklich herausfordernd in ihrer Virtuosität. Also, da ist alles drin.
Ich finde, alle drei Werke beklagen und beweinen die schlimmen Kriegszustände, die totale Zerstörung in allen Facetten.
BR-KLASSIK: Ich habe ein bisschen bei den Proben zuschauen können. Sie sind dann schon sehr expressiv in Ihren Bewegungen und Ihrer Körpersprache, manchmal springen Sie sogar auf. Hatten Sie je daran gedacht, selber zu dirigieren?
Tabea Zimmermann: Interessant – in dieser Woche haben mich zwei Kolleginnen auch schon danach gefragt! (lacht) Nein, ich möchte nicht dirigieren. Erstens kann ich es nicht. Ich habe zu viel Respekt vor dem handwerklichen Können des Dirigierens. Das Verständnis für eine größere Partitur habe ich, glaube ich, schon entwickelt inzwischen. Zweitens möchte ich es aber auch nicht, weil es für mich so wichtig ist, dass ich mich auf der gleichen Stufe mit den Musikern bewege. Für mich ist es sehr wichtig, nicht in eine Hierarchie zu geraten. Der Weg dahin ist manchmal schwerer, man könnte mit klarer Zeichengebung und mit weniger Probenzeit zu einem durchaus sehr guten Ergebnis kommen, das ist mir völlig klar. Es ist aber für den einzelnen Musiker, die einzelne Musikerin eine andere Erfahrung, wenn man sich zu hundert Prozent miteinbringen muss: voraushören, mehr Werkkenntnis, mehr Empathie für die Kollegen, für die anderen Stimmen. Es werden mehr Fähigkeiten verlangt – aber dabei ist dann die Freude des gemeinsamen Umsetzens auch größer. Das ist meine Wahrnehmung für diese Projekte. Also keine Sorge, liebe Kollegen am Pult: Ich möchte Euch die Arbeit nicht wegnehmen!
Ich möchte Euch die Arbeit nicht wegnehmen!
Das Gespräch führte Fridemann Leipold für BR-KLASSIK
Sendung: "Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks" am 21. April 2023, um 20:05 Uhr auf BR-KLASSIK