Immer wieder muss sich der bedeutendste Komponist der Ukraine einen Hang zum Kitsch vorwerfen lassen. Dabei ist Valentin Silvestrovs zarte Musik alles andere als schmalzgefühlig. Jetzt wird der Mann der leisen Töne 85 Jahre alt – und muss sich parallel dazu im Exil einleben.
Bildquelle: Marco Caselli/ECM Records
Im März ließ Valentin Silvestrov seine Kiewer Wohnung, in der er fast sechzig Jahre lang gelebt hat, hinter sich, ließ den vielbespielten Flügel zurück und floh mit Tochter und Enkelin nach Berlin. Mit Mitte 80, per Bus und per Mitfahrgelegenheit, und mit nur einem einzigen Koffer. Darin vor allem Manuskripte und Noten diverser kleinformatiger Klavierstücke, die erst zuletzt komponiert hatte.
Auch mit Mitte 80 reagiert Silvestrov künstlerisch auf das, was er erlebt. Je lauter die Welt vor sich hindröhnt, desto behutsamer ist die Musik, die er schreibt. Mit seinen sachten Stücken denkt er das Leise ins Laute hinein. Oder anders: Silvestrov versucht den großen Gesten, die, in den Händen despotischer Machthaber ins Grausame abgerutscht und in seinem Leben schon viel Schaden angerichtet haben, etwas Sanftes entgegenzusetzen. Als Kind erlebte er die Nazibesatzung seiner Heimatstadt Kiew, die ihm nun im Krieg kein Zuhause mehr ist.
Aus dem Exil heraus versucht Silvestrov zu helfen: reist herum, gibt Benefizkonzerte, sammelt Spenden für seine Heimat. Auch deshalb ist der Ukrainer dieser Tage gefragt wie selten zuvor. Ein wiederaufglänzender Ruhm als tragikomischer Nebeneffekt: Alle wollen Silvestrov, von den Berliner Philharmonikern bis hin zur MET in New York. Silvestrovs klangsensible Musik passt gut auf Benefizbühnen. Auch wenn seine Stücke früher noch nicht diesen nostalgischen Mahlermozartanstrich hatten.
In den 1960er Jahren, mit Mitte zwanzig, gehörte Silvestrov zu Kiewer Avantgarde, hatte Fürsprecher im Westen wie Pierre Boulez, Bruno Maderna und Theodor W. Adorno, während seine Musik den sowjetischen Kulturbeauftragten seiner Heimat viel zu kompliziert, zu modern, zu westlich war. In den 1970ern dann die Kehrtwende, ein Backlash in Richtung komponierter Vergangenheit: wohlklingend, tonal, nostalgisch. Er selbst nennt das: Metamusik. Oder: unakzentuierte Klassik.
Silvestrovs Stücke sind Antimonumente, er komponiert wie ein ins Heute geworfener Romantiker – befanden New Yorker Veranstalter schon in den 1980er Jahren, als sie ihn für eines seiner Konzerte in der Carnegie Hall auf einem Konzertplakat als zeitgenössischen Schubert ankündigten. Silvestrov, diesem Meister der Stille, der gerade auch mit dem Opus Klassik für sein Lebenswerk geehrt wurde, gefällt dieser passende Vergleich bis heute.
Horizonte am Donnerstag, 29. September, ab 22.05 Uhr (für sieben Tage zum Nachhören online)
Geistliche Musik am Sonntag, 2.Oktober, 22.05 Uhr
Sendung: "Allegro" am 30. September 2022 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Donnerstag, 29.September, 12:24 Uhr
Ralf Grimminger
VALENTIN SILVESTROV
Kleine Zusatzinfo: Der Meister der Stille veröffentlicht seine Musik seit mehreren Jahrzehnten beim Münchner Label ECM Records und seinem Produzenten Manfred Eicher, dessen Produktionen oft auch als "the most beautiful sound next to silence" gerühmt werden. Eicher arbeitet seit vielen Jahren mit Silvestrov zusammen und umgekehrt.