Pianist Evgeny Kissin positioniert sich klar gegen Putins Krieg in der Ukraine. Dafür holt der öffentlichkeitsscheue Musiker weit aus und erklärt, wie die Erfahrungen seiner Kindheit in der UdSSR mit der russischen Aggression von heute zusammenhängen.
Bildquelle: Felix Broede
Evgeny Kissin gehört nicht zu den Künstlern, die sich gerne öffentlich äußern. Jetzt hat er es aber doch getan. Und zwar gewaltig. Der Pianist gab dem Musikmagazin der BBC ein Interview. Um eines geht es dabei fast gar nicht: Um Musik. Vielmehr äußert sich der russischstämmige, jüdische Pianist politisch. Er stellt sich vehement gegen das Russland von Putin, gegen den Krieg in der Ukraine und gegen die Lügen, die das russische Regime verbreite, um den Krieg zu rechtfertigen.
Dass Kissin gegen diesen Krieg ist, war schon vorher bekannt. Zu Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine stellte er sich erstmals auf Facebook deutlich und authentisch gegen diesen Krieg. Schon im Februar hatte er sich in einer Videobotschaft gemeinsam mit anderen Musikerinnen und Musikern für Freiheit und Demokratie in Russland eingesetzt und die Freilassung von Alexei Nawalny und anderer politischer Gefangener in Russland gefordert. Doch das, was er nun sagte und was nun in einem vier Seiten starken Text erschienen ist, geht deutlich darüber hinaus.
Denn Kissin erzählt von seiner Kindheit in Russland: schon als kleines Kind sei er dort als Jude mit Antisemitismus konfrontiert worden. Er berichtet von anderen Kindern, die ihn belästigt haben. Seine jüdische Abstammung sei für ihn immer präsent gewesen. Er fühle sich als Jude. "Seit meiner frühen Kindheit wurde uns Juden gesagt, dass wir nicht russisch seien", erklärt er. Und führt anhand von literarischen Beispielen aus, wie sehr jüdische Stereotype in der russischen Gesellschaft verhaftet seien. Andererseits sei Russisch die erste Sprache gewesen, die er gesprochen habe. Und nur darauf bezogen sehe er sich als Russe.
Putins Propaganda beruht auf Lügen.
Trotzdem betont Kissin, der neben der russischen auch die britische und israelische Staatsangehörigkeit besitzt, dass er nicht gegen Russland an sich sei, er weist sämtliche Russophobie von sich. Aber er verurteilt die antidemokratische Entwicklung des Landes. Putins Propaganda beruhe auf Lügen.
Was ihn zu diesem emotionalen und weit ausschweifenden Interview gebracht habe, erklärt Kissin so: Er habe in Verbier ein Konzert spielen sollen, wegen einer temporären Verletzung an der Schulter musste er den Auftritt allerdings absagen. Bereits in der Schweiz bekam er aber mit, dass das Land es ablehnte, verwundete Ukrainer aufzunehmen und zu behandeln – unter Berufung auf die Neutralität der Schweiz. Obwohl dieser Beschluss in der Schweiz später zurückgenommen wurde, sei Kissin darüber so wütend gewesen, dass er beschloss, mit der Welt zu teilen, was er in Russland erlebt und beobachtet hat.
Viele Musiker hören Wörter im Kopf während sie spielen. So auch bei mir. Und zur Zeit höre ich Sätze gegen Putin.
Wie wenig Politik und Musik für ihn zu trennen sind, erklärt er abschließend anhand von Chopin. Der habe sein h-Moll-Scherzo als Reaktion auf den russischen Einmarsch in Warschau 1831 geschrieben. In der as-Moll-Polonaise feiere er anschließend den Sieg der polnischen Armee über die Russen nahe Grochów. Jetzt seien diese beiden Stücke plötzlich ganz aktuell. Seit Beginn des Krieges habe Kissin die As-Dur-Polonaise deshalb auch immer als Zugabe gespielt. Zudem höre er jetzt immer Anti-Putin-Sätze im Kopf, während er spiele. Zuletzt bei Mozarts Klavierquartett in g-Moll: „Nieder mit Putin“ habe es da in seinem Kopf immer und immer wieder gesungen.
Sendung: "Allegro" am 27. September 2022 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK
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