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Instrumenten-Erfindungen der 20er Jahre Zukunftsklänge der Vergangenheit

Elektronische Klänge in der Musik – sie sind keine Errungenschaft der Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Trautonium etwa, das Hitchcocks Film "Die Vögel" so geradezu bluterstarrend realistisch untermalte, ist eine Erfindung des 20er-Jahre, ebenso das Theremin. Und George Antheil benutzte in seinem "Ballet Mécanique" elektrische Klingeln und Flugzeugpropeller. "Roaring Twenties" im wahrsten Sinne des Wortes!

Lew Termen spielt auf dem von ihm entwickelten Theremin |  Banderole Wilde20er | Bildquelle: picture-alliance/dpa | BR

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Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hatte die Landkarte verändert, die alten Ordnungen zerstört und tiefe Risse im Gefüge der Gesellschaft hinterlassen. Auch dort, wo die Welt noch nicht in Scherben lag, ließen radikale Kräfte wenig Hoffnung, dass sich alles noch einmal harmonisch zusammenfügen würde. In zeittypischen künstlerischen Ausdrucksformen wie der Collage und Fotomontage zeigt sich ein Bild der Angst und Zerrissenheit, das ebenso wie die Film-Meisterwerke des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit gängigen Vorstellungen von den "Goldenen Zwanzigern" widerspricht. Vergleichbares findet sich in der Musik, die auf Kunstbewegungen wie Dada, aber auch auf Impulse aus der Welt der Technik reagiert.

George Antheils "Ballet Mécanique"

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George Antheil   Ballet Mecanique, INSOMNIO olv  Ulrich Pöhl | Bildquelle: INSOMNIO (via YouTube)

George Antheil Ballet Mecanique, INSOMNIO olv Ulrich Pöhl

Emanzipation des Geräuschs

Der Komponist George Antheil im Jahr 1927 | Bildquelle: George and Boske Antheil Papers/ Library of Congress Er schrieb das "Ballet Mécanique": George Antheil | Bildquelle: George and Boske Antheil Papers/ Library of Congress Dissonanzenreich, rhythmusbetont und klanglich rauer als zuvor präsentieren sich viele Werke der musikalischen Avantgarde der 20er Jahre. Besonders einprägsame Beispiele "maschinenhafter", vom Lärm des industriellen Fortschritts gesättigter Musik liefern Arthur Honegger mit "Pacific 231" und George Antheil mit dem "Ballet Mécanique". Das eine ist die symphonische Hommage an eine schwere Dampflok, das andere ein musikalisches Klangexperiment, bei dem neben selbstspielenden Klavieren elektrische Klingeln und Flugzeugpropeller zum Einsatz gelangen. Taktgeber der alle Lebensbereiche durchdringenden Umwälzungen sind die Vereinigten Staaten. New York wird zum Inbegriff der modernen Metropole. Am deutlichsten zeigt sich der amerikanische Einfluss in der Unterhaltungsindustrie. Sogar der leichten Muse weniger zugeneigte Komponisten wie Walter Braunfels öffnen sich den Trends der Zeit. Die Uraufführung der "Rhapsody in Blue" von George Gershwin in Manhattan im Jahr 1923 setzt ein auch in Europa unüberhörbares Signal.

Jazz elektrisiert

Ragtime und Blues finden Eingang in alle klassischen Genres von der Kammermusik bis zur Oper. Das lange verpönte Saxophon wird zum Symbol des Jazz in einer von den Tanzverboten der Kriegsjahre befreiten Zeit. Der Hunger nach Rausch und Abwechslung beschert Vergnügungsstätten trotz anhaltend prekärer Wirtschaftslage einen Boom. Sport, Freizeit und Mode bekommen einen nie da gewesenen Stellenwert. Auch das Radio trägt dazu bei und bewirkt einen ungeheuren Schub an Partizipation, sagt Agnieszka Lulinska, Kuratorin der Ausstellung "Im Kaleidoskop der Moderne" in der Bundeskunsthalle in Bonn: "Fußballspiele, Autorennen, Boxkämpfe. Diese Dramatik, die wir heute oft noch im Radio oder Fernsehen hören, hat ihren Ursprung in den 20er Jahren."

Der wilde Sound der 20er

Wissenswertes rund um die Musik der 1920er Jahre, Edutainment-Videos zu Schlüsselwerken und Musik der Epoche finden Sie hier im BR-KLASSIK-Dossier.

Radiophones Repertoire

Nach der Erstsendung der Berliner Funkstunde im Oktober 1923 erreicht das Radio in Deutschland innerhalb weniger Jahre ein Millionenpublikum und kurbelt im Nebeneffekt die Schallplattenumsätze kräftig an. Von Jahr zu Jahr größer wird auch die Zahl speziell fürs Radio produzierter Werke. Ein erster Höhepunkt ist 1929 erreicht, kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise. Dichter wie Bertolt Brecht und Erich Kästner, Musikschaffende wie Kurt Weill, Eduard Künneke und Paul Hindemith beteiligen sich am Aufbau eines "radiophonen" Repertoires mit Hörspielen und Kompositionen für die neu gegründeten, speziell im Dienst der leichten Unterhaltung stehenden Rundfunk-Orchester.

Klanglabor Rundfunk

Oskar Sala am Mixturtrautonium | Bildquelle: picture-alliance/dpa Oskar Sala am Mixtur-Trautonium | Bildquelle: picture-alliance/dpa In Berlin wird 1928 als Abteilung der Musikhochschule eine sogenannte Rundfunkversuchsstelle eingerichtet, die sich technisch und künstlerisch mit dem neuen Medium befasst. Dort steht auch die Wiege des nach seinem Erfinder Friedrich Trautwein benannten Trautoniums. In vielem nimmt es die Möglichkeiten späterer Synthesizer bereits vorweg. Bei seiner ersten öffentlichen Vorstellung im Jahr 1930 erklingen sieben Trios unter dem Titel "Des Kleinen Elektromusikers Lieblinge" von Paul Hindemith. An der Uraufführung beteiligt ist Oskar Sala, der sich in den Folgejahren als Trautonium-Interpret, Ingenieur und Filmkomponist einen Namen macht. Salas bekannteste Arbeit ist die gewissermaßen vollsynthetische, das heißt ohne einen einzigen natürlichen Vogellaut geschaffene Soundkulisse für den Film "Die Vögel" von Alfred Hitchcock.

Zeitlos futuristisch

Die elektronische Klangerzeugung, mögen die Grundlagen auch früher geschaffen worden sein, gehört zu den großen Errungenschaften der 20er Jahre und zu ihren bedeutendsten Pionieren der russische Erfinder Lew Termen. Die Spielweise seines als Theremin bekannten Instruments berührt ein großes Thema der damaligen Zeit: die Symbiose von Mensch und Maschine – von vielen erträumt, von vielen anderen gefürchtet. Beim Theremin schaltet sich der Mensch berührungslos in die Produktion der Töne ein. Sie formen sich allein aus der Bewegung der Hände und Fingerspitzen im elektromagnetischen Feld zweier Antennen. Die Musik fließt gleichsam durch den Körper gewandelt in den Äther zurück – daher auch die ursprüngliche Bezeichnung "Aeterophon". Mehr als das Original haben die dem Theremin technisch eng verwandten, aber in der Handhabung veränderten Ondes Martenot die Phantasie zeitgenössischer Komponisten beflügelt. Ihr Entwickler Maurice Martenot ließ sie sich 1928 patentieren und tüftelte weiter an seinem Instrument, versah es mit einer Klaviatur und später mit einem saitenbespannten zusätzlichen Resonanzkörper. Allen elektronischen Instrumenten der 1920er Jahre gemeinsam ist, dass sie in der Geschichte des Kinos ihre Spuren hinterlassen haben, speziell im Genre des Psychothrillers, Horror- und Science-fiction-Films einschließlich moderner Parodien wie "Ghostbusters" und "Mars Attacks!".

Lew Termen demonstriert sein Instrument

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Leon Theremin playing his own instrument | Bildquelle: slonikyouth (via YouTube)

Leon Theremin playing his own instrument

Sendungen:
"KlassikPlus – Musikfeature" am 12. Mai 2023, ab 19:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Wiederholung am 13. Mai 2023, ab 14:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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