Seit zehn Jahren gastiert der lettische Pultstar Andris Nelsons, einer der gefragtesten Dirigenten der jungen Generation und seit dieser Saison Chef des Boston Symphony Orchestra, nun schon mit schöner Regelmäßigkeit beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Diesmal hat sich Nelsons zwei russische Partituren vorgenommen, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten. Stargast ist erneut der chinesische Publikumsmagnet Lang Lang, der eines der absoluten Schlachtrösser der Klavierliteratur spielt: das populäre Klavierkonzert Nummer 1 in b-Moll von Peter Tschaikowsky. Hauptwerk des Abends ist die vierte Symphonie von Dmitrij Schostakowitsch, ein Werk von gewaltigen Dimensionen, grellen Kontrasten und unerhörter Drastik. Unter dem politischen Druck des stalinistischen Terror-Regimes zog Schostakowitsch das sperrige Werk zurück und rettete sich durch Selbstbezichtigungen - erst 25 Jahre nach seiner Entstehung konnte es 1961 in Moskau von Kirill Kondraschin uraufgeführt werden. Das gigantisch besetzte Werk in c-Moll durchschreitet eine von Mahlers Symphonik beeinflusste, schrundige Klanglandschaft, in der sich katastrophische Exzesse türmen und bodenlose Abgründe auftun. In seiner vierten Symphonie nahm Schostakowitsch auf nichts und niemanden mehr Rücksicht - nach einem radikalen Kopfsatz und einem schaurigen Scherzo erstirbt der Trauermarsch des Finales buchstäblich, nachdem er sich noch einmal ohrenbetäubend aufgebäumt hat.
(Fridemann Leipold)