Der wilde Sound der 20er
In den 1920er-Jahren gerät nicht nur die Welt, sondern auch das Musikleben ins Taumeln. Tobias Bleek zeigt in seinem neuen Buch "Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme", wie eng Musik und Gesellschaft miteinander verflochten sind. Sein Buch erscheint im April bei Bärenreiter/Metzler – einige Auszüge daraus veröffentlicht BR-KLASSIK exklusiv. In der vierten Folge geht es um Louis Armstrong, Lillian Hardin und Oliver's Creole Jazz Band – ein Thema, das Tobias Bleek in einem umfangreichen Buchkapitel behandelt.
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[…] Dass sich zentrale Entwicklungen der frühen Jazz-Geschichte in Chicago vollzogen, ist kein Zufall. Im Zuge der ersten Welle der "Great Migration" gehörte die Großstadt am Südwestufer des Lake Michigan zu den bevorzugten Destinationen der afroamerikanischen Zuwanderer aus den Südstaaten. Während um 1910 rund 40.000 Afroamerikaner in Chicago lebten, waren es zehn Jahre später schon weit über 100.000.[1] Allein zwischen 1916 und 1920 strömten mindestens 50.000 Männer und Frauen nach Chicago. Da in der Zweimillionen-Metropole kriegsbedingt Arbeitskräftemangel herrschte, war man dazu übergegangen, attraktive Arbeitsplätze in der Industrie, die Schwarzen bislang vorenthalten worden waren, erstmals für sie zu öffnen.[2] Ein Großteil der Neuankömmlinge ließ sich in der South Side nieder – ein Quartier, das für seine Cafés, Restaurants, Nachtclubs, Theater und Tanzhäuser und sein boomendes Nachtleben bekannt war und Musikerinnen und Musikern zahlreiche Auftritts- und Verdienstmöglichkeiten bot. "Jeder, den ich sah, war schwarz", erinnerte sich der Jazzbassist und Fotograf Milt Hinton, der in den 1920er-Jahren in diesem Teil von Chicago aufwuchs: "Es gab kein 'Black-white'-Problem, denn unsere gesamte Community war schwarz."[3] Hinton hatte die ersten neun Jahre seines Lebens in Mississippi verbracht und in der Kleinstadt Vicksburg neben extremer Armut auch massiven Rassismus kennengelernt. Eine prägende Kindheitserinnerung war das Erlebnis eines Lynchmords. Als er 1919 mit einem Teil seiner Familie in den Norden zog und sich in Chicago niederließ, bot sich ihm dort ein anderes Bild afroamerikanischen Lebens: "Damals wurde mir klar, dass Schwarzsein nicht immer bedeutet, dass man arm sein muss."[4] Und die Gospel-Sängerin Mahalia Jackson, die im Dezember 1928 im Alter von 17 Jahren ihrer Heimatstadt New Orleans den Rücken kehrte und sich in Chicago niederließ, bemerkte, dass es in der South Side möglich gewesen sei, "seine Bürde, ein Farbiger [colored person] in der Welt der Weißen zu sein, abzulegen und sein eigenes Leben zu führen".[5] Dennoch war das Chicago der 1920er-Jahre natürlich keine Insel der Seligen. Auch hier gab es zahlreiche afroamerikanische Männer und Frauen, die unter schwierigen Bedingungen lebten und von Armut, prekären Arbeitsverhältnissen und Obdachlosigkeit betroffen waren.[6]
Eine der angesagtesten Spielstätten im Chicago der frühen 1920er-Jahre war der Tanzpalast Lincoln Gardens.[7] Für ein Eintrittsgeld von 25 Cent konnten sich hier jeden Abend bis zu tausend Menschen vergnügen. Spektakulär war bereits die Beleuchtung im größten Tanzhaus der South Side: "Wenn man den Saal betrat, wurde das Auge zunächst von einer großen Kristallkugel angezogen", erinnerte sich einer der Stammgäste: "Sie hing mitten über der Tanzfläche und bestand aus kleinen reflektierenden Glasstücken."[8] Von einigen Scheinwerfen angestrahlt rotierte diese Vorform der Discokugel, die in den 1920er-Jahren in Tanzpalästen auf beiden Seiten des Atlantiks in Mode kam, verteilte ihre Lichtpunkte im ganzen Raum und beleuchtete spotlichtartig die Tänzerinnen und Tänzer.
Joe 'King Oliver und seine Jazz-Band,1923 | Bildquelle: picture alliance / akg-images | akg-images "Dance to the music of Joe Oliver’s Creole Jazz Band" heißt es in einer Werbeanzeige, die im vielgelesenen Chicago Defender erschien.[9] Seit Juni 1922 spielte der Bandleader aus New Orleans, der vermutlich Anfang 1919 nach Chicago übergesiedelt war,[10] allabendlich in Lincoln Gardens auf. Auf dem Kornett, einem mit der Trompete eng verwandten Blechblasinstrument, das in der frühen Geschichte des Jazz eine zentrale Rolle spielte, hatte sich Joe "King" Oliver (eigentlich Joseph Nathan Oliver) bereits in den Jahren zuvor einen Namen gemacht. Die anderen Mitglieder der insgesamt siebenköpfigen Band stammten ebenfalls aus den Südstaaten. Lillian Hardin, die mit Oliver bereits zuvor zusammengespielt hatte und Ende 1922 die heute nahezu vollständig vergessene Pianistin Bertha Gonsoulin ersetzte, hatte ihre Kindheit in Memphis verbracht. Die Brüder Johnny und Warren "Baby" Dodds (Klarinette bzw. Schlagzeug), der Posaunist Honoré Dutrey und der Bassist und Banjo-Spieler Bill Johnson kamen allesamt aus New Orleans.[11] Und auch das jüngste Bandmitglied, das schon bald zu einem der berühmtesten (afroamerikanischen) Musiker und Entertainer des 20. Jahrhunderts werden sollte, war in jener Stadt, die als Wiege des Jazz gilt, aufgewachsen und musikalisch sozialisiert worden. Anfang August 1922 verließ der 21-jährige Louis Armstrong New Orleans und reiste auf Olivers Einladung mit dem Zug nach Chicago. An der Seite seines Idols und Mentors spielte er für die nächsten zwei Jahre die Partie des zweiten Kornetts in der Creole Jazz Band. Für sein Spiel erhielt er dort pro Abend 7,50 Dollar, fünfmal so viel wie die Gage, die ihm in New Orleans bezahlt worden war. Sein Verdienst war damit mehr als doppelt so hoch wie der Durchschnittslohn eines amerikanischen Arbeiters. Hinzu kamen Trinkgelder, die das Festhonorar nicht selten verdoppelten.[12]
Wer Anfang 1923 einen Abend in den Lincoln Gardens verbrachte, erlebte dort King Oliver's Creole Jazz Band mit einem gemischten Programm. Es umfasste gemeinsame Nummern mit Bluessängerinnen wie Ethel Waters, die Begleitung von Showeinlagen wie dem Auftritt einiger "hellhäutiger" Tänzerinnen und den Vortrag von zahlreichen Instrumentalstücken, in denen die Bandmitglieder ihr außergewöhnliches Ensemblespiel, ihr instrumentales Können und ihre performativen Fähigkeiten unter Beweis stellten. So gab es ähnlich wie im Vaudeville Slapstick-Einlagen, parodistische Spiele mit Rassenklischees und andere szenische Elemente, die häufig ein direkter Bestandteil der musikalischen Darbietung waren. […]
Der Blick auf die Tanzfläche eines Clubs der South Side lässt erahnen, wie voll es dort auch in Lincoln Gardens 1923 gewesen sein muss. | Bildquelle: © Hogan Jazz Archive, Special Collections, Howard-Tilton Memorial Library. Tulane University Direkt vor der Band sowie an den Seiten des Saales und auf einem Balkon waren Bänke, Stühle und Tische platziert. Das Hauptgeschehen des Abends spielte sich allerdings während eines Großteils der Zeit auf der Tanzfläche ab, wie sich sich Jahrzehnte später der Schlagzeuger Baby Dodds erinnerte: "The people came to dance. One couldn't help but dance to that band. The music was so wonderful that they had to do something, even if there was only room to bounce around."[13] Für Dodds und seine Kollegen war diese enge Verbindung von Musik und Bewegung, Jazz und Tanz eine Selbstverständlichkeit. Während Sängerinnen wie Gertrude »Ma« Rainey und Bessie Smith den sogenannten "klassischen Blues" im Kontext des Vaudevilles (weiter-)entwickelten, wurden Tanzpaläste wie Lincoln Gardens in den frühen 1920er-Jahren zum Schauplatz zentraler Innovationen im Bereich des instrumentalen Jazz. Am Rande der Tanzfläche entwickelten King Oliver's Creole Jazz Band und andere Akteure den New Orleans Jazz weiter, übertrugen das Blues-Idiom auf das Tanzbandrepertoire und spielten schnellere Tempi als in ihrer Heimatstadt, um das urbane Publikum zu begeistern und in Bewegung zu versetzen. "Wir hatten im Osten noch keine Gruppen gehört, die den Blues und Stomps so spielen konnten wie diese Jungs", bemerkte der bei New York geborene afroamerikanische Jazzpianist Willie "The Lion" Smith in seinen Memoiren. Und der Posaunist Preston Jackson, der selbst aus New Orleans stammte, resümierte in einem 1958 geführten Interview kurz und knapp: "Mit dem Blues in der Tasche hatten die Musiker aus New Orleans Chicago fest im Griff."[14] […]
Für den um fast zwei Jahrzehnte älteren Joe Oliver empfand Louis Armstrong zeitlebens tiefe Dankbarkeit und große Bewunderung.[15] […] Als Lehrer hatte Oliver den begabten Jungen aus ärmlichen Verhältnissen, der sich damals mit dem Verkauf von Kohle in New Orleans' mythenumwobenem Rotlichtviertel Storyville, mit Straßenmusik und kleinen Auftritten über Wasser hielt, in die moderne Kunst "des Phrasierens auf dem Kornett" eingewiesen.[16] Als Mentor holte er den gerade 21-Jährigen nach Chicago, machte ihn zum Mitglied seiner Band und wurde zu einem wichtigen Wegbereiter seiner atemberaubenden Karriere. Dass Oliver dabei auch eigene Interessen verfolgte, ist nicht überraschend. Bereits gezeichnet von einem Zahnfleischleiden, das ihm das Spiel in den folgenden Jahren zunehmend erschweren sollte, benötigte er einen zweiten Kornettisten, der ihn unterstützte und zugleich bereit war, sich unterzuordnen. Was damit konkret gemeint war, hat der Pianist und Bandleader Earl Hines als "staying under" beschrieben. Hines, der 1928 bei zwei der berühmtesten Armstrong-Aufnahmen am Klavier saß (Weather Bird und West End Blues), wirkte damals ebenfalls in Chicago und begleitete dort zahlreiche Sänger und Sängerinnen, darunter Stars wie Ethel Waters: "When a person's in the spotlight, and you're accompanying, you're always supposed to be under what the artist is doing. I'd always listen to what she did, and listen to the changes she made, so that the next time I could really follow the channel she was in."[17]
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King Oliver's Creole Jazz Band - Canal Street Blues
Der junge Armstrong beherrschte diese Kunst der Anpassung bis zur Perfektion. Obwohl er durchaus in der Lage gewesen wäre, mit Oliver in Wettstreit zu treten, überließ er ihm bereitwillig die Führungsrolle. Seine beeindruckende Fähigkeit, Olivers Spiel in allen Nuancen zu folgen, ihn zu unterstützen und dabei unterschiedliche Rollen einzunehmen, bezeugen bereits die ersten Platten der Band, darunter der am 5. April 1923 aufgezeichnete Canal Street Blues. Dass Joe Oliver und seine Band mit diesem am allerersten Aufnahmetag eingespielten Stück ihrer Heimatstadt ein Denkmal setzen wollten, macht schon der Titel deutlich. Bezug genommen wird damit auf eine der zentralen Achsen von New Orleans, mit der fast alle Bandmitglieder persönliche Erinnerungen verbanden. Die in südöstlicher Richtung verlaufende Canal Street bildet die historische Grenze zwischen der kreolisch geprägten kolonialen Altstadt (French Quarter) und dem neueren amerikanischen Geschäftsviertel (Business District). Armstrong hatte seine Kindheit in der nahe gelegenen South Rampart Street verbracht. Seine Mutter arbeitete zeitweise für eine in der Canal Street wohnende weiße Familie, wusch "in einer Zinkwanne über heißem Kohlenfeuer im Hof" deren Wäsche und erhielt dafür einen Dollar pro Tag – "gutes Geld damals", wie sich Armstrong später erinnerte.[18]
Man kann davon ausgehen, dass die Dauer von Canal Street Blues bei Live-Auftritten der Band beträchtlich variierte. Abhängig von der Situation, ihren Ideen und ihrer Lust und Laune entschieden die Musiker, wie viele Chorusse eines Titels sie spielten. Während sie in Lincoln Gardens mitunter mehr als zehn aneinanderreihten,[19] waren ihnen im Aufnahmestudio zeitlich enge Grenzen gesetzt. Nach zweieinhalb Minuten blitzte ein rotes Licht auf und signalisierte der Band, dass die Speicherkapazität des Aufnahmemediums bald erschöpft sei und sie nun rasch zu einem Ende finden müssten.[20] An ihrem ersten Tag im Studio – "We were all very nervous", erinnert sich Baby Dodds[21] – waren die Musiker offensichtlich darum bemüht, die zeitliche Begrenzung sklavisch zu befolgen. So ist Canal Street Blues auf der Debütplatte von King Oliver's Creole Jazz Band bereits nach zweieinhalb Minuten zu Ende, Zeit genug für eine kurze Einleitung, fünf Chorusse und einen äußerst komprimierten Schluss.[22]
Trotz der Unzulänglichkeiten des Aufnahmeverfahrens vermittelt die Einspielung von Canal Street Blues einen plastischen Eindruck von jener Kunst des Ensemblespiels und der kollektiven Improvisation, für die King Oliver und seine Creole Jazz Band in exemplarischer Weise stehen. Begleitet vom durchgehenden Puls der Rhythmusgruppe, Einwürfen der Posaune und einer girlandenförmigen Gegenmelodie in der Klarinette, werfen sich Oliver und Armstrong im ersten Chorus musikalisch die Bälle zu. In raschem Wechsel spielen sie nach dem Call- und Response-Prinzip kurze melodische Fragmente und finden sich punktuell zu aphoristischen Duetten zusammen. Im zweiten Chorus übernimmt Oliver dann die Führung. Mit ausdrucksvollem Ton intoniert er eine schnörkellose Version von The Holy City, begleitet vom parallel geführten zweiten Kornett, das die Lead-Stimme in tieferem Register unterstützt.
Dass die Melodie eines religiösen Lieds inmitten heißer Jazzrhythmen erklingt, die im Chicagoer Nachtleben die Menschen zum Tanzen brachten, mag auf den ersten Blick erstaunen. Doch auch in Chimes Blues, einem Titel, den Oliver und seine Band ebenfalls an jenem 5. April 1923 aufnahmen, spielt diese von Michael Maybrick zu Beginn der 1890er-Jahre komponierte Melodie eine zentrale Rolle. Der Text des Liedes beschreibt die heilige Stadt Jerusalem als Schauplatz der Leidensgeschichte von Jesus Christus und als postapokalyptischen himmlischen Sehnsuchtsort. An seinem Ende steht die Vision einer neu erstandenen heiligen Stadt, die im Licht Gottes erstrahlt und mit geöffneten Toren allen Einlass gewährt, die dies begehren. Im nordamerikanischen Kontext lag es nahe, diese Strophe metaphorisch zu verstehen. Bereits während der puritanischen Kolonialisierung Neuenglands im 16. Jahrhundert wurde das "Neue Jerusalem" als Chiffre für die "Neue Welt" gedeutet. Zugleich bemühte John Winthrop in einer berühmten Predigt die aus dem Matthäusevangelium entlehnte Formulierung "City upon a Hill", um den besonderen Bund mit Gott zu beschwören und den Anspruch zu formulieren, Vorbild für andere zu sein.[23] Im Lauf der folgenden Jahrhunderte wurde diese Gedankenfigur dann zu einem zentralen Bestandteil der amerikanischen Zivilreligion und damit verbundener politischer, theologischer und kultureller Narrative.[24]
Für Joe Oliver hatte The Holy City offensichtlich eine besondere Bedeutung. Wie Alberta Hunter in einem späten Interview berichtete, trug er "Jerusalem! Jerusalem! Sing for the night is o'er", begleitet von einigen anderen Musikern, ebenfalls bei seinen Live-Auftritten vor: "Wenn Louie dabei war, dann spielten nur er und Louie, und es war das Schönste, was du je in deinem Leben gehört hast."[25] Verbunden war dieses gemeinsame Spiel vermutlich mit Erinnerungen an die eigene musikalische Sozialisation. Sowohl Oliver als auch Armstrong waren in New Orleans mit religiösen Liedern wie The Holy City aufgewachsen. In der Kirche hatten sie erste musikalische Erfahrungen gemacht, singen gelernt und bereits in ihrer Kindheit und Jugend erlebt, wie eng die Musik, die später unter den Begriffen "Blues" und "Jazz" bekannt wurde, mit musikalischen Praktiken zusammenhing, die dort eine wichtige Rolle spielten.[26] Ein eindrückliches Beispiel dafür ist das Prinzip der Heterophonie: das gemeinsame Singen oder Spielen einer Melodie, die gleichzeitig in verschiedenen rhythmischen und melodischen Varianten vorgetragen wird. Im kirchlichen Rahmen prägte diese partizipative musikalische Praktik den Gemeindegesang. Im New Orleans Jazz bildet sie die Grundlage des kollektiven Improvisierens, eröffnet Raum für Ausdrucksreichtum sowie ständige melodische und rhythmische Variation und führt zu jenem komplexen Ineinandergreifen der beteiligten Stimmen, das man auf den Aufnahmen der Creole Jazz Band hören und bewundern kann. Charakteristisch ist dabei auf der einen Seite die klare Funktionsteilung der Stimmen und eine daraus resultierende Staffelung des Klangbilds – ein Effekt, der bei den frühen Platten durch das technisch bedingte Ungleichgewicht der Stimmen allerdings konterkariert wird. So bringt die Aufnahme die Lead-Funktion des ersten Kornetts im zweiten und dritten Chorus trotz der Unterstützung durch Armstrong nicht adäquat zur Geltung, da die beiden Instrumente zu leise sind. Auf der anderen Seite ist das Verhältnis der Stimmen dynamisch beschaffen, und es kommt immer wieder zu Rollenwechseln. Im vierten Chorus übernimmt der Klarinettist Johnny Dodds mit einem virtuosen Solo die Führung, während die beiden Kornette und die Posaune pausieren. Ins akustische Scheinwerferlicht gerät dabei auch die energetische Begleitung der dezimierten Rhythmusgruppe: die erstaunlich abwechslungsreichen Gegenrhythmen, die Baby Dodds auf dem Woodblock spielt, und eine Bassfigur auf dem Banjo, die an die Pizzicato-Klänge des aus technischen Gründen nicht zum Einsatz kommenden Kontrabasses erinnert. […]
Auf den frühen Gennett-Aufnahmen von King Oliver's Creole Jazz Band bewegt sich Armstrong die meiste Zeit im Schatten seines Mentors. Während Johnny Dodds immer wieder mit virtuosen Klarinettensoli und obligaten Gegenstimmen in den Vordergrund tritt und auch Honoré Dutrey mit präganten Einwürfen (Fill-ins) und kurzen Posaunensoli auf sich aufmerksam macht, hält sich der zweite Kornettist merklich zurück und spielt in den Kornett-Breaks, an denen er beteiligt ist, fast durchgehend gemeinsam mit Oliver. […] Eine der wenigen Stellen, an denen Armstrong ins Rampenlicht tritt, findet sich in Chimes Blues. Im zweiten Drittel des am ersten Studiotag aufgenommenen Titels spielt er vor der majestätischen Wiederkehr des "Holy City"-Themas ein längeres Solo. Die Aufmerksamkeit, die diese Passage auf sich gezogen hat, hängt vor allem damit zusammen, dass Armstrong hier zum ersten Mal alleine zu hören ist. In musikalischer Hinsicht bringt das Solo hingegen keine wirklichen Überraschungen. Es ist melodisch und rhythmisch eher einfach gestrickt, wirkt einstudiert und vermittelt noch nicht jenen Eindruck von Spontaneität und überbordender Phantasie, für den seine Soli bald gefeiert werden sollten.
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Chimes Blues -- King Oliver's Creole Jazz Band
Die Rolle der Glocken übernimmt in Olivers Arrangement von Chimes Blues Lillian Hardin. Als Teil der Rhythmusgruppe beschränkte sich ihre Funktion normalerweise darauf, im Hintergrund zu bleiben und gemeinsam mit Schlagzeug und Bass bzw. Banjo für ein stabiles rhythmisches und harmonisches Fundament zu sorgen. Dass diese Aufgabe kaum Abwechslung brachte und auf die Dauer nicht sehr befriedigend war, liegt auf der Hand. So erinnerte sich Hardin später: "Manchmal verspürte ich den Drang, mich auf der gesamten Klaviatur frei auf und ab zu bewegen. Aber Oliver knurrte dann: 'Wir haben schon eine Klarinette in der Band.'"[27] Auf die Gelegenheit zu virtuosem Spiel wartete Hardin in der Creole Jazz Band vergeblich. In Chimes Blues gestand ihr Oliver jedoch zu, zumindest für einen Moment hörbar in den Vordergrund zu treten. In pendelnden Akkordfolgen evoziert sie den Klang der Glocken, die die Erscheinung des Neuen Jerusalem feiern. Platziert ist dieses unspektakuläre Solo direkt vor dem Auftritt des zweiten Kornettisten, jenem Bandmitglied, dem sie in der ersten Jahreshälfte 1923 auch persönlich näherkam. […]
Tobias Bleek leitet das Education-Programm des Klavier-Festivals Ruhr und ist Honorarprofessor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste. Sein Buch "Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme" erschien im April 2023 bei Bärenreiter/Metzler. Beim Klavier-Festival Ruhr 2023 kuratiert er eine Veranstaltungsreihe zu diesem Thema. An der Gestaltung des BR-KLASSIK-Programmschwerpunkts "Der wilde Sound der 20er" ist er als konzeptioneller Berater beteiligt.
Buch-Cover "Im Taumel der Zwanziger" | Bildquelle: Bärenreiter Metzler
Tobias Bleek:
Im Taumel der Zwanziger
1923: Musik in einem Jahr der Extreme
320 Seiten; mit Abbildungen
Hardcover
Bärenreiter/Metzler
BVK02519
April 2023 erschienen
[1] Laut eines Artikels aus The Talking Machine World (15. 7. 1923, S. 93) lebten 1923 bereits um die 200 000 "Farbige" ("colored populace") in Chicago.
[2] Christopher Manning, "African Americans", in: https://encyclopedia.chicagohistory.org.
[3] Zit. nach Brothers, Louis Armstrong, S. 43.
[4] Hinton (u. a.), Playing the Changes, S. 11.
[5] Jackson, Movin' On Up, S. 46.
[6] Laut einer zeitgenössischen Studie gab es im Chicago der frühen 1920er-Jahre je nach konjunktureller Lage zwischen 30 000 und 75 000 Obdachlose. Vgl. Oakley, The Devils's Music, S. 87.
[7] Vgl. hier und im Folgenden Brothers, Louis Armstrong, S. 13–33.
[8] George Wettling, in: Shapiro / Hentoff, Hear Me Talkin' to Ya, S. 99 f.
[9] Brothers, Louis Armstrong, S. 24.
[10] Vgl. Anderson, "The Genesis", S. 288.
[11] Vgl. zur komplexen Entstehungsgeschichte von King Oliver's Creole Jazz Band ebd.
[12] Vgl. Knauer, Black and Blue, S. 39.
[13] Zit. nach ebd., S. 31.
[14] Zit. nach ebd., S. 58.
[15] Vgl. z. B. das Fernsehinterview mit R. L. Gleason, das am 23. 1. 1963 im Rahmen der Sendereihe "Jazz Casual" im San Francisco TV ausgestrahlt wurde. www.youtube.com/watch?v=Dc3Vs3q6tiU.
[16] Vgl. ebd., S. 5 sowie Knauer, Black and Blue, S. 26.
[17] Zit. nach Brothers, Louis Armstrong, S. 81.
[18] Knauer, Black and Blue, S. 21.
[19] Vgl. ebd., S. 51.
[20] Brothers, Louis Armstrong, S. 60.
[21] Zit. nach ebd., S. 62.
[22] Veröffentlicht wurde Canal Street Blues zusammen mit dem am selben Tag aufgenommenen Titel Just Gone (Gennett 5133). Die Chorusse beginnen bei ca. 0:06 (I), 0:37 (II: "The Holy City"), 1:08 (III), 1:23 (IV), 1:52 (IV).
[23] So heißt es in der berühmten Predigt A Model of Christian Charity des puritanischen Juristen und zweiten Gouverneurs der Massachusetts Bay Colony John Winthrop aus dem Jahr 1630: "For wee must Consider that wee shall be as a Citty upon a Hill, the eies of all people are uppon us." Vgl. auch Reithel, Geschichte der nordamerikanischen Kultur, Bd. I, S. 58.
[24] Vgl. hierzu insbesondere Van Engen, City on a Hill.
[25] Zit. nach Brothers, Louis Armstrong, S. 489, Anm. 4.
[26] Vgl. ebd., S. 4 sowie S. 84f.
[27] "Sometimes, I'd get the urge to run up and down the piano. But Oliver growled, 'We [already] have a clarinet in the band.'" Zit. nach Brothers, Louis Armstrong, S. 86.
Sendungen: "Was heute geschah" in Allegro am 5. April um 7:40 Uhr auf BR-KLASSIK