Der wilde Sound der 20er
Jahrbücher gibt es viele, was meist fehlt, ist der Blick auf die Musik - sagt Musikhistoriker Tobias Bleek. Er hat deshalb ein Buch über das Jahr 1923 und die Musik dieser Zeit geschrieben: "Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme", es erscheint im April. Sein Blick sei durch die Recherchen zu diesem Buch geschärft worden, so Bleek im Gespräch mit Meret Forster. Vor allem für die Verbindungen und die Einbettung von Musik in gesellschaftliche und politische Prozesse.
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BR-KLASSIK: Wir schreiben jetzt das Jahr 2023. Was hat unsere Zeit hundert Jahre danach mit der Zeit von damals zu tun? Gab es bei Ihren Recherchen Anknüpfungspunkte oder Analogien zu heute?
Tobias Bleek: Auf jeden Fall! Aber man muss als Historiker vorsichtig sein, weil sich Geschichte ja nicht wiederholt und die Situation damals natürlich eine andere war als heute. Aber ich bin doch auf erstaunlich viele Themen gestoßen, die schon damals diskutiert worden sind und uns heute auch noch beschäftigen. Ich nenne nur ein paar Stichworte wie Krise des Konzerts, die Frage, wie sich Publikum in Krisenzeiten verändert, oder die Politisierung von Kunst. Interessant war für mich auch zu beobachten, wie sich meine eigene Perspektive auf die Zeit in den letzten Jahren verändert hat. Denn natürlich sind wir Historiker nicht frei von dem, was wir in der Gegenwart erleben. Ich glaube, man bekommt ein Gespür für bestimmte Themen und das, was diese Themen in den Menschen über die Diskursebene hinaus bewirken.
BR-KLASSIK: A propos Politisierung von Kunst: Anlass für Béla Bartóks Tanz-Suite war der 50. Jahrestag der Vereinigung der Stadtteile Buda und Pest zur neuen ungarischen Hauptstadt. Inwieweit sollte diese Musik denn auch einem politischen Zweck dienen?
Béla Bartók | Bildquelle: © Leemage Tobias Bleek: Bartók wurde von dem damals sehr konservativen und nationalistischen Stadtparlament beauftragt. An die Musik waren bestimmte Erwartungen geknüpft, die allerdings nicht explizit ausformuliert worden sind. Ungarn gehörte ja wie Deutschland zu jenen Ländern, die nach dem Ersten Weltkrieg viel verloren haben: rund zwei Drittel des einstigen Territoriums und der Bevölkerung. Insofern war der Wunsch nach nationaler Selbstbestätigung besonders groß. Man wollte im Herbst 1923 nicht nur die Stadt Budapest, sondern auch die ungarische Nation und die ungarische Kultur mit vielen Veranstaltungen feiern, unter anderem auch mit einem Festkonzert.
BR-KLASSIK: Es ging eigentlich um eine Verherrlichung der ultranationalen Regierung, zumindest in den Augen derer, die diesen Auftrag vergeben haben. Wie unterlief Bartók dieses chauvinistische Anliegen?
Tobias Bleek: Sehr geschickt, indem Bartók das machte, was er auch zuvor schon oft getan hatte: er hat auf Volksmusik Bezug genommen. Er war ja nicht nur Komponist, sondern auch Volksliedsammler. Interessant ist, dass er seine Sammeltätigkeit zunächst als nationales Projekt begonnen hatte. Anfang des 20. Jahrhunderts wollte Bartók ungarische Volksmusik sammeln, um auf dieser Basis eine ungarische Kunstmusik aufzubauen. Im Laufe seiner wissenschaftlichen Beschäftigung hat er jedoch gemerkt, dass es die "reine" ungarische Volksmusik eigentlich gar nicht gibt und kultureller Austausch auch im Bereich der Volksmusik eine enorm wichtige Rolle spielt.
BR-KLASSIK: Bartóks Stück war also ein Statement für kulturellen Austausch.
Tobias Bleek: Ja, das ganze Stück ist letztlich ein Statement für kulturellen Austausch und Offenheit. Gleich am Anfang schreibt Bartók einen imaginären Tanz, indem er ungarische Rhythmen mit "arabischer" Melodik kombiniert. Sein Blick geht also auch über Europa hinaus. Die Hörerschaft hat das damals wahrscheinlich gar nicht verstanden, weil er zum Zeitpunkt der Uraufführung nicht darüber gesprochen hat. Erst fast zehn Jahre später hat Bartók in Briefen und einem nicht veröffentlichen Text offengelegt, was da eigentlich passiert.
BR-KLASSIK: Blick nach Frankreich: Dort wird 1923 Igor Strawinskys "Les Noces" uraufgeführt, ein sehr eigentümliches Ballett mit Gesang. Es geht um ein folkloristisches russisches Hochzeitsritual, geschrieben vom Immigranten Strawinsky in Paris.
Igor Strawinsky | Bildquelle: picture-alliance / akg-images Tobias Bleek: Es ist ein fantastisches und irgendwie auch sehr verrücktes Stück. Das sieht man schon an der Besetzung. Es ist ein Ballett mit Ensemble. In der Endfassung sind vier Solisten, ein Chor und ein Orchester vorgesehen, das aus vier Klavieren und Schlagzeug besteht. Das Werk hat eine lange Geschichte. Schon vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte Strawinsky die ersten Ideen. In Frankreich hat seine große Karriere begonnen. Er liebte es, im Westen zu sein und zugleich regelmäßig in seine Heimat zurückreisen zu können. Nach der Russischen Revolution war ihm klar, dass eine Rückkehr nun nicht mehr möglich war. Diese veränderte Situation beeinflusste natürlich auch seine künstlerische Entwicklung. Mit "Les Noces" hat er eine unglaublich interessante Transformation absolviert. Das Orchester von 1923 ist ein neuartiges Ensemble, mit dem Strawinsky seine Modernität unter Beweis stellte. Am Beginn stand aber ein großbesetzter Orchesterapparat mit Streichern, Blasinstrumenten usw. Wenn man tiefer einsteigt, kann man an all diesen Veränderungen sehen, wie eng Strawinskys künstlerische Entwicklung mit seiner veränderten Lebenssituation und seinem Immigranten-Dasein zusammenhängt.
Im inflationsgeschüttelten Deutschland waren Extreme ganz eng beieinander.
BR-KLASSIK: Auch Schlager prägten die Musikwelt von 1923, etwa das sogenannte Bananen-Lied. Wie wurde dieser Revue-Titel denn zum Mega-Hit?
Tobias Bleek: Im inflationsgeschüttelten Deutschland waren Extreme ganz eng beieinander. Auf der einen Seite Not und Hunger und auf der anderen Seite eine wilde Vergnügungs- und Tanzsucht. Der Hit "Ausgerechnet Bananen" ist eigentlich ein amerikanischer Erfolgsschlager gewesen, der sich sehr schnell in europäische Länder verbreitet hat. Fritz Löhner-Beda, der später auch bekannt geworden ist als Librettist der Operette "Das Land des Lächelns", erhielt den Auftrag, eine deutsche Textfassung dieses Liedes zu erstellen. Er hat einen wunderbaren Text geschrieben und damit dieses Lied erotisch aufgeladen. In der amerikanischen Fassung geht es um einen griechischen Obsthändler, der keine Bananen zu bieten hat. In Löhner-Bedas Fassung geht es um einen Don Juan namens Meier, der versucht bei einer Frau zu landen, es aber nicht schafft, weil die Frau eigentlich nur Bananen will. Das Szenario spielt auf verschiedenen Ebenen mit erotischen Andeutungen und der zeittypischen Sehnsucht nach Vergessen in der schnellen Liebe, die hier allerdings keine Erfüllung findet.
BR-KLASSIK: Ihr Buch widmet sich auch der Jazzszene in Chicago mit Louis Armstrong, Lilian Hardin und der Creole Jazz Band. Interessant finde ich, dass nicht nur Louis Armstrong im Fokus steht, sondern auch die Pianistin Lilian Hardin, Partnerin und dann auch Ehefrau von Armstrong, die eine lokale Berühmtheit blieb, während ihr Mann zum Weltstar wurde. Warum ist Lilian Hardin so unterbelichtet geblieben?
Louis Armstrong | Bildquelle: picture-alliance/dpa Tobias Bleek: Die jüngere Jazzgeschichtsschreibung arbeitet daran, Frauen wie Lillian Hardin zu würdigen und ihre Biographien zu rekonstruieren. Louis Armstrong war ein großartiger Trompeter, Lilian Hardin eine hervorragende Pianistin, aber sie hatte eine andere Funktion in der Band. Das Paar ist durch äußere Umstände zusammengekommen. Armstrong kam als 21-Jähriger auf Einladung von King Oliver nach Chicago. Lilian Hardin war schon etwas früher dort und spielte in der Band. Armstrong ist im Prinzip auf der Straße in New Orleans musikalisch sozialisiert worden. Hardin bekam eine relativ klassische Ausbildung und hat diesen Background in die Band und dann auch in die Zusammenarbeit mit Armstrong eingebracht.
BR-KLASSIK: Inwiefern sehen Sie im Zuge des Buchprojekts die Musik der 1920er-Jahre jetzt anders?
Tobias Bleek: Ich glaube, mein Blick ist durch dieses Projekt vor allem für die Verbindungen und die Einbettung von Musik in gesellschaftliche und politische Prozesse geschärft worden. Und das betrifft nicht nur naheliegende Themen wie die Veränderungen des Musiklebens in Zeiten der Hyperinflation, sondern auch Schönbergs und Strawinskys künstlerische Neuorientierung nach Ende des Ersten Weltkriegs. Darüber hinaus finde ich die Parallelität von sehr unterschiedlichen Phänomen unglaublich spannend. Wenn man einen Schritt zurücktritt, destillieren sich allerdings bestimmte Themen heraus, die die Gesellschaft damals beschäftigten, und die sich in ganz verschiedenen Bereichen artikulieren, etwa die Frage des Nationalismus. Man begegnet ihr, wenn man sich mit der Entstehung von Bartóks "Tanz-Suite" beschäftigt, aber natürlich auch, wenn man auf den Widerstand gegen die Ruhrbesetzung und die politischen Lieder, die damals gesungen wurden, blickt.
BR-KLASSIK: Wenn Sie eine Playlist zum Thema 1923 zusammenstellen, welcher Titel steht bei Ihnen ganz oben?
Tobias Bleek: Das ist eine schwierige Frage, weil mehrere Titel gleichwertig nebeneinanderstehen müssten. Wenn ich das Werk nennen sollte, das mich persönlich am stärksten berührt, wäre es wohl Strawinskys "Les Noces". Wenn ich ein Stück auswählen sollte, das für den musikalischen und gesellschaftlichen Aufbruch und einen neuen "Sound" steht, würde ich einen Titel von Bessie Smith oder von der Creole Jazz Band und Louis Armstrong vorschlagen. Und wenn ich schließlich ein Werk benennen sollte, das zeigt, wie stark Musik auf Gesellschaft und Politik reagiert, wäre mein Favorit Bartóks "Tanz-Suite".
Sendungen: "KlassikPlus" am 17. Februar ab 19:05 Uhr und 18. Februar ab 14:05 Uhr auf BR-KLASSIK