Der wilde Sound der 20er
In den 1920er-Jahren gerät nicht nur die Welt, sondern auch die Musik und das Musikleben ins Taumeln. Tobias Bleek zeigt in seinem neuen Buch "Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme", wie eng Musik und Gesellschaft miteinander verflochten sind. Sein Buch erscheint im April bei Bärenreiter/Metzler – einige Auszüge daraus veröffentlicht BR-KLASSIK exklusiv. In der zweiten Folge geht es um die Auswirkungen der Hyperinflation auf das Musikleben des Jahres 1923 – ein Thema, das Tobias Bleek in einem umfangreichen Buchkapitel behandelt.
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"Adieu 1923; du warst nicht schön", notierte Hedwig Pringsheim am letzten Tag des Jahres in ihr Tagebuch und setzte dahinter zwei lange Gedankenstriche.[1] Wie viel Understatement in dieser lakonischen Bemerkung mitschwingt, lässt sich erahnen, wenn man im Journal der Literatur-, Kunst- und Musikliebhaberin 365 Tage zurückblättert. So hatte die einstige Schauspielerin, Mutter des Dirigenten Klaus Pringsheim und Schwiegermutter von Thomas Mann am 31. Dezember 1922 das anbrechende neue Jahr mit dem Stoßseufzer begrüßt: "Möge 1923 besser werden, als dies nach jeder Richtung schlimmste 1922. Amen!"[2] Von dem sehnlichen Wunsch, dass "das Jahr 1923 endlich die große Wandlung, den Weg zum Besseren bringen möge", waren laut Vossischer Zeitung auch zahlreiche Berlinerinnen und Berliner erfüllt.[3] Am 31. Dezember 1922 feierten sie in der drittgrößten Stadt der Welt, in der damals 3,9 Millionen Menschen lebten, ein ungestümes Silvesterfest. An einem untypisch warmen Abend vom "Gepräge einer italienischen Sommernacht" waren "die Hauptstraßen der Stadt von Zehntausenden von Menschen überflutet, von denen die Mehrzahl […] aus Pistolen und anderen Knallwerkzeugen ihrem übervollen Herzen Luft machten". Es wurde "unheimlich getrunken", die Gaststätten und Kneipen waren "alle bis zum Platzen gefüllt", und statt sich an die "3-Uhr-Polizeistunde" zu halten, ließen sich viele erst nach "Anbruch des ersten Januarmorgens" dazu bewegen, mit dem Feiern aufzuhören und nach Hause zurückzukehren. Für den namentlich nicht genannten Autor des Berichts stand fest, dass dieses exzessive Verhalten Ausdruck eines den besonderen Zeitumständen geschuldeten kollektiven Befindens war. Dahinter stehe das "Gefühl, daß das endlich zu Grabe getragene alte Jahr eine kaum mehr ertragbare Last von Unglück gebracht hat", der Gedanke, "daß es schlimmer im neuen Jahre unmöglich kommen könne", und der besagte Wunsch nach einem grundsätzlichen Wandel der Verhältnisse. Doch es gab auf den Berliner Straßen neben den ausgelassen Feiernden auch die hoffnungslos Verzweifelten. "Auffallend groß war die Zahl der Selbstmörder, die sich wie auf Verabredung auf die Minute zwölf Uhr das Leben nahmen", heißt es im selben Artikel. Einer von ihnen, der Arbeiter Wilhelm Tornow, ertränkte sich in der Spree. In der Tasche seiner am Ufer zurückgelassenen Hose "lag ein Zettel, auf dem zu lesen war: 'Ihr denkt doch nicht daran, daß ich 1923 mitmache!'"[4]
Bekanntlich erwiesen sich die Hoffnungen der Feiernden auf eine Besserung der allgemeinen Lage als Illusion, und man darf wohl davon ausgehen, dass sich viele von ihnen schon bald die Zustände des Jahres 1922 zurückgewünscht hätten. Während die Leserinnen und Leser der Silvesterbilanz der Vossischen Zeitung am 2. Januar 1923 für die Morgenausgabe noch 40 Mark bezahlten, hatte sich der Preis des Blatts vier Wochen später mit 100 Mark bereits mehr als verdoppelt. Ende Juli, als der Kurs des US-Dollars die symbolische Eine-Million-Mark-Marke überschritt, konnte die Morgenausgabe für günstige 4.000 Mark erworben werden. Am 2. Oktober kostete sie vier Millionen, und am 20. November war der Preis auf sagenhafte 100 Milliarden geklettert. […]
Bezahlung mit Naturalien an der Theaterkasse des Schlossparktheaters in Berlin-Steglitz, 1923 | Bildquelle: © picture-alliance / akg-images
"Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß sich der deutsche Musikbetrieb umstellen muß", konstatierte Gerhard Tischer am 24. Februar 1923 in der Rheinischen Musik- und Theater-Zeitung.[5] In einer Artikelserie diskutierte der Herausgeber des konservativ ausgerichteten Periodikums die Auswirkungen der massiven Geldentwertung auf das Konzertleben und berichtete von den Sorgen der Veranstalter: "Die Konzertunkosten wachsen ins Riesenhafte. Ausgaben für Konzertraum, Licht, Heizung, Flügeltransport, Reklame, Drucksachen verschlingen die ganzen Einnahmen; es bleibt bei ausverkauftem Saale für den Konzertgeber oftmals nichts mehr übrig; bedarf es zur Ausführung des Konzerts etwa gar eines Orchesters und einer Reihe von Solisten, wie z. B. bei einer Oratorienaufführung, so ist ein gewaltiges Defizit unvermeidlich."[6]
Unter dem Titel "Was darf ein Konzertplatz kosten?" befasste sich die in Berlin erscheinende Vossische Zeitung mit derselben Problematik. Im Fokus standen dabei nicht nur die Nöte der Veranstalter, sondern auch das "Elend der Musikerhonorare": "Die Eintrittspreise der Berliner Konzerte […] betragen im Durchschnitt kaum mehr als etwa 800 Mark, also etwa das 250fache des Friedens. Hiervon müssen bezahlt werden alle die Riesenkosten, die entsprechend der allgemeinen Entwertung auf das 2–3 tausendfache, teilweise auch noch mehr gestiegen sind […]. Was kann da selbst für einen sehr großen Künstler übrig bleiben? Ein ausverkaufter Beethovensaal, der drittgrößte in Berlin, deckt noch nicht einmal die Kosten eines Orchesterkonzerts, von kleineren Sälen gar nicht zu sprechen."[7]
Dass die sich beschleunigende Geldentwertung und die Unvorhersehbarkeit der Entwicklung auch das System des Vorverkaufs infrage stellte, liegt auf der Hand. So erklärte Erich Sachs, seit dem Ersten Weltkrieg Teilhaber der marktbeherrschenden Berliner Konzert-Direktion Hermann Wolff & Jules Sachs Mitte Februar: "Der Vorverkauf beginnt gewöhnlich drei Wochen vor dem Konzertabend, und wenn dann plötzlich eine Teuerungswelle kommt, können die Eintrittspreise nicht mehr angepaßt werden, weil sich niemand dazu verstehen wird, auf ein bereits bezahltes Billett noch einen Zuschlag zu leisten." Zugleich beklagte der Konzertagent, dass die Verhältnisse in Berlin besonders schwierig seien: "Eine Sanierung der desolaten Zustände kann nur erfolgen, wenn die Preise gründlich hinaufgesetzt werden. In Wien ist ein Preis von 50.000 Kronen für ein Konzertbillett nichts Ungewöhnliches. In Berlin übersteigen schon 2.000 M. das Fassungsvermögen eines Publikums, das die Preissteigerungen auf allen Gebieten, nur nicht auf einem so lebenswichtigen, wie dem der Kunst und Musik, hinnimmt."[8]
Ob das Publikum in der deutschen Hauptstadt tatsächlich unwilliger war, Preiserhöhungen im kulturellen Bereich hinzunehmen als anderswo, und welche Faktoren in diesem Zusammenhang eine Rolle spielten, müsste man genauer untersuchen. Fest steht jedoch, dass die Kurve der Kartenpreise im Jahresverlauf steil nach oben ging und die Veranstalter dazu zwang, unorthodoxe Maßnahmen zu ergreifen. Exemplarisch studieren lässt sich diese Entwicklung anhand der Konzerte des Berliner Philharmonischen Orchesters.[9] Bei den populären Volkskonzerten unter Leitung von Richard Hagel, bei denen es nur zwei Preiskategorien gab, war man um eine moderate Preissteigerung bemüht und legte offensichtlich Wert darauf, auch unter zunehmend schwieriger werdenden ökonomischen Bedingungen die Schwelle für den Konzertbesuch nicht zu hoch zu setzen. Zwischen dem 3. Januar und dem 29. April verzehnfachten sich die Preise zwar: von 100 auf 1.000 Mark für die Balkone und das Proszenium sowie von 150 auf 1.500 Mark für diejenigen, die sich einen Logenplatz leisten wollten. Zieht man allerdings in Betracht, dass der "Zweckverband der Bäckermeister" kurz vor dem letzten Volkskonzert der Saison angekündigt hatte, den Brotpreis ab dem 30. April von bisher 1.750 auf 2.000 Mark zu erhöhen, war es nach wie vor verhältnismäßig günstig, sich in der Alten Philharmonie in der Bernburger Straße einen der über 2.500 Sitzplätze zu sichern, um die Philharmoniker in einem ihrer niedrigpreisigen populären Konzerte zu hören.[10] In die zum Konzertsaal umgebaute ehemalige Rollschuhbahn gelockt wurde das Publikum an diesem letzten Sonntagabend im April mit einem Mischprogramm. Es kombinierte die heute völlig unbekannte Festouvertüre über ein thüringisches Volkslied des dänisch-belgischen Komponisten Eduard Lassen mit Evergreens der Klassischen Musik: Griegs zweiter Peer-Gynt-Suite, Webers Freischütz-Ouvertüre, Bruchs Violinkonzert und Wagners "Waldweben" aus Siegfried.
200 Milliarden Mark für die Karte eines Konzerts mit den Berliner Philharmonikern am 12.12.1923 | Bildquelle: © Archiv Berliner Philharmoniker Nach der Sommerpause gab es dann kein Halten mehr. Ein Platz im ersten Philharmonischen Volkskonzert am 2. September kostete schon in der billigsten Kategorie eine Million Mark. Die Menschen, die drei Wochen später in die Staatsoper Unter den Linden strömten, um dort am 24. September Verdis Maskenball zu erleben, bezahlten zwischen zweieinhalb und 140 Millionen. Am folgenden Tag gab die Opernleitung bekannt, dass die Preise bis auf Weiteres "aus der an der Theaterkasse befindlichen Übersicht zu ersehen" seien.[11] Und auch in der Berliner Philharmonie-Zeitung wurden ab dem 30. September keine Preisangaben mehr abgedruckt. Das traditionelle Vorverkaufssystem war damit endgültig erledigt, und die Preise konnten – wie auch in vielen anderen Bereichen – bei Bedarf stündlich erhöht werden. Kurz nach Einführung der "Rentenmark", mit deren Hilfe es der Reichsregierung gelingen sollte, die lang ersehnte Wende in der Inflationskrise einzuleiten, erreichte die Spirale der "wahnwitzigen Scheinzahlen"[12] ihren Endpunkt. Wer am 20. November 1923 noch in der Lage war, sich in der vormals Mitgliedern des Bayerischen Königshauses vorbehaltenen Proszeniumsloge des Münchner Nationaltheaters einen Sessel zu leisten, bezahlte dafür vier Billionen Papiermark. Wer bereit war, auf jegliche Sitzgelegenheit zu verzichten, konnte an diesem Dienstagabend die "glänzende" Neueinstudierung von Smetanas Die verkaufte Braut unter Leitung des 29-jährigen Karl Böhm für 180 Milliarden stehend auf der Galerie verfolgen.[13] Der Reichsbank war es übrigens just an diesem Tag gelungen, durch eine abermalige "scharfe Heraufsetzung der Devisenkurse" den Dollar bei 4,2 Billionen Papiermark zu stabilisieren.[14] Einen skeptischen Bericht dazu brachten am folgenden Morgen die Münchner Neuesten Nachrichten, deren Einzelausgabe stattliche 100 Milliarden Papiermark kostete – etwas mehr als halb so viel wie der billigste Opernplatz.[15]
Die absurden Preissteigerungen und die Notwendigkeit, auf die exponentielle Geldentwertung zu reagieren, betraf natürlich nicht nur den Konzert- und Opernbetrieb, sondern das gesamte Musikleben. Anfang Februar berichtete die in Paris erscheinende angesehene musikalische Wochenzeitung Le Ménestrel, der Verband der deutschen Musiklehrer habe aufgrund des Werteverlusts der Mark das Stundenhonorar für den instrumentalen Anfängerunterricht auf 500 bis 1.000 Mark erhöht.[16] Bedenkt man, dass die Anpassung der Gehälter und Löhne häufig zeitverzögert erfolgte und in vielen Fällen den enormen Kaufkraftverlust bei Weitem nicht zu kompensieren vermochte, lässt sich ausmalen, was diese Entwicklung für den Bereich der musikalischen Bildung bedeutete. Aufgrund der komplexen Situation sind generalisierende "„Aussagen über die Auswirkungen der Geldentwertung auf soziale Klassen und Schichten" zwar problematisch,[17] fest steht jedoch, dass sich in der großen Gruppe der Verlierer neben Rentnern und Teilen des einst finanzkräftigen Bildungsbürgertums ebenfalls zahlreiche bildungsorientierte Mittelstandsfamilien befanden. Sie litten unter den einschneidenden Verdienstausfällen, hatten zugleich ihre Ersparnisse verloren und waren deswegen nicht mehr in der Lage, die (musikalische) Ausbildung ihrer Kinder zu finanzieren – eine Entwicklung, die zugleich die Musiklehrerinnen und Musiklehrer in Existenznöte brachte.[18]
Der Geiger Carl Flesch | Bildquelle: © Library of Congress, Prints & Photographs Division, [reproduction number, e.g., LC-B2-1234] In seinen Leitartikeln zur Krise des "deutschen Musikbetriebes" hatte der Herausgeber der Rheinischen Musik- und Theater-Zeitung bereits Anfang Februar ein verstärktes kommunales und staatliches Engagement im Bereich der Musik verlangt, wobei er gemäß seiner kulturpolitischen Überzeugungen präzisierte, dass es ihm ausschließlich um die Förderung "kulturell wertvoller Musikübung" gehe.[19] In ihrer nächsten Ausgabe konnte die Halbmonatsschrift melden, dass eine "sehnsüchtig erwartete Fahrpreisermäßigung für Künstler, die sich auf Gastspiel- und Konzertreise befinden", beschlossen worden war. "Mitglieder von Theaterunternehmungen (Wandertheater, Städtebundtheater u. dergl.) und Orchestervereinigungen“, deren Auftritte der "Kunstpflege oder der Volksbildung" dienten, könnten schon bald zum halben Preis mit der Bahn reisen.[20] Neben solchen durch die öffentliche Hand finanzierten Maßnahmen gab es auch private Initiativen. Der Verein der deutschen Musikalienhändler rief im Herbst seine Mitglieder dazu auf, "für hilfsbedürftige Musiklehrer und Schüler Notenmaterial kostenfrei zu spenden." In Berlin förderte der unter anderem von dem Geiger Carl Flesch wenige Jahre zuvor gegründete Hilfsbund für deutsche Musikpflege "Musiker, die in der augenblicklich schweren Zeit einer Unterstützung bedürfen".[21] Und in Leipzig rief die "Robert Schumann-Stiftung zum Besten notleidender Musiker" im August 1923 "Freunde der Stiftung" dazu auf, "uns schnellstens weitere Adressen unterstützungswürdiger bedürftiger Musiker zukommen zu lassen, da die katastrophale Entwertung der Mark eine sofortige Auszahlung" der eingegangenen Spendengelder notwendig mache.[22]
Der Druck, den die Inflation auch im Bereich des Laienmusizierens erzeugte, lässt sich am Beispiel des Deutschen Arbeiter-Sängerbunds (DAS) studieren.[23] Der 1908 gegründete Dachverband war eine wichtige Säule der Arbeiterbildungsbewegung und damit eine Art Gegenpol zum bürgerlich geprägten Deutschen Sängerbund und hatte 1923 mehr als 260.000 Mitglieder, die in ganz Deutschland in insgesamt 5.166 Chören aktiv waren. Das Spektrum der Sängerinnen und Sänger war dabei breit gefächert, umfasste unterschiedliche Berufsgruppen, wobei die Facharbeiterschaft den Kern der Bewegung darstellte.[24] Maßgeblich geprägt durch die Kultur des seit dem 19. Jahrhundert boomenden Männerchorgesangs war der DAS nach wie vor männlich dominiert. Allerdings wuchs der Frauenanteil seit 1914 beständig, betrug 1920 bereits 22 Prozent und kletterte Ende der 1920er-Jahre sogar auf über 30 Prozent. Dass der Prozentsatz aktiver Frauen ausgerechnet im Inflationsjahr kurzzeitig leicht zurückging, ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer allgemeinen Tendenz, die auch in anderen Verbänden zu beobachten ist. In einer Situation, in der die Sicherung der materiellen Existenz insbesondere für Familien einen erheblichen Mehraufwand an Zeit und Energie erforderte, sahen sich gerade Mütter oft dazu gezwungen, ihre Freizeitaktivitäten extrem einzuschränken oder vollständig aufzugeben.[25] "Ganz besonders leiden die Frauen, die Mütter", konstatierte im August 1923 ein Redakteur des sozialdemokratischen Vorwärts und präzisierte: "Ich kenne Fälle, in denen die Frau um 5 Uhr morgens aufstand, um 5.30 Uhr schon vor der Meierei sich in der Polonäse mit anstellte und glücklich gegen 12 Uhr nach Hause kam, weinend, zusammengebrochen, weil gerade kurz vor ihr die Margarine ausverkauft war."[26] Dennoch gab es laut der Statistik des Deutschen Arbeiter-Sängerbunds 1923 rund 60.000 Frauen, die in "743 gemischten und 691 Frauenchören" sangen.[27]
Dass der sozialistische Verband darum bemüht war, die Mitgliederbeiträge gerade in diesem schwierigen Jahr gering zu halten, liegt auf der Hand. Im Juni 1923 betrug der monatliche Beitrag noch 30 Mark. Bis November war er auf 250.000 Mark gestiegen, lag damit aber immer noch weit unter dem Preis einer Tageszeitung. Aufgrund der Einnahmeverluste sah sich der Dachverband gezwungen, die Verbandszeitschrift einzustellen, und war zwischenzeitlich auch nicht mehr in der Lage, das für ihn arbeitende Personal zu bezahlen. Dass die Mitgliedsbeiträge trotzdem nicht stärker angehoben wurden, war zweifellos auch der Tatsache geschuldet, dass auf die Sängerinnen und Sänger vor Ort noch weitere Kosten zukamen. Da viele Kommunen den sozialistischen Arbeiterchören nicht gestatteten, in Schulräumen zu proben, traf man sich häufig in Gaststätten und war angehalten, dort auch etwas zu trinken oder zu verzehren. Hinzu kamen neben den Aufführungskosten bei Konzerten insbesondere die Dirigentenhonorare. Während die Chöre in ländlichen Gebieten häufig von Volksschullehrern geleitet wurden, handelte es sich in den Städten oft um Berufsmusiker, die entsprechend honoriert werden wollten. Mit welchem Engagement man sich im Bereich der Laienmusik darum bemühte, die musikalischen Aktivitäten inmitten der Krise weiterführen zu können, und wie erfinderisch man dabei zum Teil war, zeigt der Blick auf die Musikvereinslandschaft. Im niedersächsischen Schnelten schickte der örtliche Musikverein offensichtlich ein geschlachtetes Schwein an ein Musikhaus aus Oldenburg, um dafür neue Musikinstrumente zu erhalten. Den Dirigenten, einen ehemaligen Militärmusiker, bezahlten die Mitglieder mit Butter und Eiern.[28] Im bayerisch-schwäbischen Pfarrdorf Unterreitnau initiierte die dortige Musikkapelle eine Holz- und Schnapssammlung. Die zusammengekommenen Naturalien ermöglichten dem Verein unter anderem, Notenmaterial zu erwerben und Instrumente zu reparieren bzw. neu zu kaufen.[29] Praktiziert wurde hier also der Rückgriff auf eine Form des Tauschhandels, der auf dem Höhepunkt der Inflation auch in vielen anderen Bereichen (etwa bei Ärzten) gang und gäbe war. […]
Die große Bedeutung, die Musik und andere kulturelle Aktivitäten im Krisenjahr 1923 für viele Menschen hatten, ist vielfach beschrieben worden. In einer Zeit, in der die Welt "verrückt geworden" war und die Geldnot viele dazu zwang, immer mehr Zeit und Kraft für die Sicherung der materiellen Grundbedürfnisse aufzubringen, konnte man in Konzertsaal, Theater oder Kino dem "entsetzlich ermüdenden" Alltag zumindest für ein paar Stunden entfliehen. "Erholung war nur immer wieder das Kino", konstatierte der leidenschaftliche Cineast Victor Klemperer bereits im März. Ein halbes Jahr später notierte er auf dem Höhepunkt der Krise: "Alles schwankt in Deutschland, wirtschaftlich u. politisch. […] Gestern saßen wir auch am Nachm. wieder tröstlich im Kino, u. am Abend musicierte Schelesowa hier. Heute war nichts als Verzweiflung und Leere."[30]
Kurt Weill | Bildquelle: picture-alliance / akg-images Während der Dresdner Romanist und seine Frau Tröstung im Kino fanden, stürzte sich Kurt Weill im Oktober 1923 ins Berliner Konzertleben. Seine Eindrücke beschreibt der 23-jährige Komponist, seit Anfang 1921 Schüler von Ferruccio Busoni an der Akademie der Künste, in einem Brief an den "verehrten Meister": "Ein Blick auf das Publikum der Konzertsäle genügt, um zu erkennen, dass dieses Berlin die Musik nicht aufgeben wird. Freilich sitzen in den Philharmonischen Konzerten noch die Scharen, die bei Mozart 'niedlich', bei Beethoven heroisch und bei Bach streng auszusehen versuchen; das linke Bein klopft die Viertel dazu und die rechte Hand klimpert die Achtel. Aber allen Gesichtern gemeinsam ist ein rührender Ausdruck von Glückseligkeit, dass sie bei allem Geschehen noch in einem erleuchteten Konzertsaal sitzen und Musik hören dürfen. Dadurch wird das Urteil des Laien naiver, aufrichtiger und – wertvoller für den Künstler. Und an den Kassen hört man Fantasiepreise für Billets. (Bis zu einer Milliarde am Montagabend)."[31]
Die Intensität des Konzerterlebens, die Weill – noch ganz unter dem Einfluss des Busoni-Zirkels – auf der Grundlage elitärer Denkmuster beschreibt, wird auch in vielen anderen Schilderungen hervorgehoben. Hinter dem Hunger nach gemeinsamen Musikerlebnissen stehe dabei nicht nur das Verlangen, dem Alltag zu entfliehen, und die "Sehnsucht nach Betäubung", sondern auch der Wunsch, neue Kraft zu sammeln und sich seelisch zu erbauen.[32] In seinen Lebenserinnerungen hat Stefan Zweig diese existenziellen Dimensionen von Kunst in Krisenzeiten mit emphatischen Worten beschrieben: "Nie werde ich zum Beispiel eine Opernaufführung vergessen aus jenen Tagen der äußersten Not. Man tastete sich durch halbdunkle Straßen hin, denn die Beleuchtung mußte wegen der Kohlennot eingeschränkt werden, man zahlte seinen Galerieplatz mit einem Bündel Banknoten, das früher für das Jahresabonnement einer Luxusloge ausgereicht hätte. Man saß in seinem Überzieher, denn der Saal war nicht geheizt, und drängte sich gegen den Nachbarn, um sich zu wärmen […]. Niemand wußte, ob es möglich sein würde, nächste Woche die Oper noch fortzuführen, wenn der Schwund des Geldes weiter andauerte und die Kohlensendungen nur eine einzige Woche ausblieben. […] Aber dann hob der Dirigent den Taktstock, der Vorhang teilte sich und es war herrlich wie nie."[33]
Die Möglichkeiten zu Flucht, Tröstung und Erbauung, die die Kultur bot, waren allerdings nicht jedem vergönnt. So wuchs im Zuge der exponentiellen Geldentwertung die Gruppe derer, die sich einen Konzert-, Opern- oder Theaterbesuch schlichtweg nicht mehr leisten konnten. Dies betraf insbesondere Musik- und Kunstliebhaber aus der alten kulturellen Elite, die als Sparer oder Hypothekenbesitzer ihr Vermögen verloren hatten, als Beamte unter erheblichen Gehaltseinbußen litten oder als Rentner und Selbstständige kaum noch über die Runden kamen. "Längst ohne Theater, auf das Kino allein angewiesen, sind wir jetzt auf das Vorstadtkino beschränkt", notierte Victor Klemperer Ende August in seinem Tagebuch.[34] Unter dem Titel "Die Not der geistigen Arbeiter" diskutierte Alfred Weber diese wachsende Verarmung der "Arbeitsintellektuellen" kurz darauf in einem berühmten Vortrag. Der in Heidelberg lehrende Soziologe konstatierte eine zunehmende Trennung von Bildung und Besitz, befürchtete, dass es im Zuge dessen zu einer intellektuellen Verarmung der Gesellschaft kommen werde, und warnte vor der Gefahr einer Kommerzialisierung des Geisteslebens.[35] (Nach Weber verdienten höhere Beamte nicht mehr als anderthalbmal so viel wie ein ungelernter Arbeiter.)
Der deutsch-amerikanische Musikwissenschaftler Alfred Einstein | Bildquelle: © ÖNB, Bildarchiv Austria / Georg Fayer In der (musikalischen) Presse wurden diese Entwicklungen besonders emotional verhandelt. Viele Äußerungen lassen sich dabei als Teil der langanhaltenden Debatte über eine "Krise des Konzertwesens" verstehen, deren Anfänge ins späte 19. Jahrhundert zurückreichen.[36] Beeinflusst von allgemeinen Diskussionen über kulturellen und gesellschaftlichen Niedergang und die Kehrseiten der Moderne wurden auch im Bereich des Konzertes Verfallserscheinungen diagnostiziert und beklagt. Im Zuge der Neuordnung des Musiklebens, die der Systemwechsel von der Monarchie zur Republik mit sich brachte, und der massiven gesellschaftlichen Veränderungen, die durch den Krieg in Gang gesetzt bzw. beschleunigt worden waren, nahm die normativ aufgeladene Debatte in den frühen 1920er-Jahren Fahrt auf. Als sich die Bedingungen im Zuge der Hyperinflation weiter verschlechterten, sahen sich insbesondere kulturkritische Kommentatoren in ihrer allgemeinen Krisendiagnose und ihren Mutmaßungen über einen Verfall der Konzertkultur bestätigt. So erklärte Alfred Einstein in seiner düsteren Bilanz des Herbstes 1923 apodiktisch: "'Das Publikum' – es existiert nicht mehr. Schon der Krieg hat die Gemeinschaft der Zuhörer, denen gute Kammer- oder Orchestermusik Lebensbedürfnis war, dezimiert […]. Die besten dieser Gemeinschaft, die ohnedies nie auf den besten Sitzen saßen, sind allmählich auf die Stehplätze und endlich aus dem Konzertsaal, aus dem Opernhaus ganz hinausgedrängt worden, sie sitzen zuhause und brüten über die Beschaffung des Notwendigsten für den kommenden Tag, ihr Leben ist kunstleer geworden."[37] Auch für den Dresdner Musikkritiker Friedrich Adolf Geissler stand fest, dass die Hyperinflation zu einer tiefgreifenden Veränderung bei der Zuhörerschaft geführt habe: "Der kunstliebende Mittelstand, auf den sich einst alle Veranstaltungen in der Hauptsache stützen konnten, ist ausgeschaltet, denn er kann einerseits die dem heutigen Geldwert entsprechenden Einlaßpreise nicht zahlen, ist aber andererseits von den allenthalben üblichen Volksaufführungen ausgeschlossen, da die Karten zu diesen, einem bedauerlichen sozialen Irrtum zufolge, meist nur durch die Gewerkschaften ausgegeben werden, mit denen er in keiner Verbindung steht. Sogar Freikarten muß der Arme aus dem Mittelstande jetzt vielfach resigniert ablehnen, weil die Nebenkosten für Straßenbahn, Kleiderablage und Zettel schon über seine Kräfte gehen."[38] Berlin sei "jetzt die Stadt der Fahrräder geworden", berichtete zur selben Zeit das Berliner Tageblatt, da sich kaum einer mehr die Straßenbahnfahrt leisten könne.[39]
Gekoppelt waren diese kulturkritischen Diagnosen oft mit einer Klage über die Verhaltensweisen des neuen Publikums, das sich "erfahrungsgemäß weder durch Kunstbedürfnis noch durch Geschmack" auszeichne.[40] So monierte der Kritiker Fritz Jaritz in den Signalen für die Musikalische Welt bereits im April 1923: "Während Musikhungrige sich den Betrag für einen Konzertbesuch oftmals vom Munde abdarben, um in der Ausdeutung der Musik Ablenkung zu finden und neue Kraft für den so schweren Daseinskampf aus ihr zu schöpfen, machen es sich in den vordersten Sitzen juwelengeschmückte Finger zur Hauptaufgabe, mit Papieren zu knistern, bei Beethoven-Symphonien Bonbons und Schokolade zu knabbern oder sich während des Vortrages in halblautem Ton über Themen zu unterhalten, die mit Kunst ganz gewiss nichts zu tun haben."[41] Wie massiv der Schwund des alten Stammpublikums im Inflationsjahr tatsächlich war, ist schwer zu ermessen, da es hierzu keine verlässlichen Zahlen gibt. Allerdings besteht kein Zweifel daran, dass die Hyperinflation die Umschichtungsprozesse im Konzertsaal weiter vorantrieb und das Bürgertum auch in diesem angestammten Feld auf schmerzhafte Weise mit seinem ökonomischen und gesellschaftlichen Statusverlust konfrontierte. "Die Einheitlichkeit von damals war verschwunden", erinnerte sich der Berliner Komponist Max Butting: "Das drückte sich schon im äußeren Bild aus. Da kam der arme Inflationsverlierer im Straßenanzug und saß neben dem Gewinnler im großen Abendanzug."[42] […]
Tobias Bleek leitet das Education-Programm des Klavier-Festivals Ruhr und ist Honorarprofessor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste. Sein Buch "Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme" erschien im April 2023 bei Bärenreiter/Metzler. Beim Klavier-Festival Ruhr 2023 kuratiert er eine Veranstaltungsreihe zu diesem Thema. An der Gestaltung des BR-KLASSIK-Programmschwerpunkts "Der wilde Sound der 20er" ist er als konzeptioneller Berater beteiligt.
Buch-Cover "Im Taumel der Zwanziger" | Bildquelle: Bärenreiter Metzler
Tobias Bleek:
Im Taumel der Zwanziger
1923: Musik in einem Jahr der Extreme
320 Seiten; mit Abbildungen
Hardcover
Bärenreiter/Metzler
BVK02519
April 2023 erschienen
[1] Pringsheim, Tagebücher, Bd. 7, S. 114.
[2] Ebd., Bd. 6, S. 335.
[3] "Die Bilanz der Silvesternacht", in: Vossische Zeitung, 2.1.1923, Morgenausgabe. Die folgenden Zitate stammen aus diesem Artikel.
[4] Ebd.
[5] Gerhard Tischer, "Umstellung", in: Rheinische Musik- und Theater-Zeitung XXIV/7–8 (24.2.1923), S. 37.
[6] Ders., "Sorgen der Konzertvereine", in: Rheinische Musik- und Theater-Zeitung XXIV/5–6 (10.2.1923), S. 25.
[7] Dr. Leon, "Was darf ein Konzertplatz kosten? Das Elend der Musikerhonorare", in: Vossische Zeitung, 27.2.1923, Morgenausgabe.
[8] Zit. nach Muck, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester, Bd. 2, S. 10.
[9] Eine Grundlage dafür bieten die im Archiv der Berliner Philharmoniker enthaltenen Ausgaben der Berliner Philharmonie-Zeitung, Programmhefte und Programmzettel sowie die Quellen, die im zweiten Band der Dokumentation von Muck abgedruckt sind.
[10] "Erhöhung der Brotpreise", Berliner Tageblatt, 28.4.1923, Abendausgabe.
[11] Vgl. von Marcard, "Auf zu neuen Ufern", S.165.
[12] Klemperer, Leben sammeln, S. 711.
[13] Vgl. den Theaterzettel zur Vorstellung der Bayerischen Staatsoper am 20.11.1923, abgedruckt in: Irion, "Der Charakter des Spielplans bestimmt das Wesen des Theaters", S. 117. Eine Kritik der Neueinstudierung brachten am 21.11.1923 die Münchner Neuesten Nachrichten.
[14] Vossische Zeitung, 20.11.1923, Abendausgabe.
[15] Münchner Neueste Nachrichten, 21.11.1923, Einzelpreis 100 Milliarden.
[16] Le Ménestrel 85/5 (2.2.1923), S. 57.
[17] Longerich, Außer Kontrolle, S. 114.
[18] Vgl. Ullrich, Deutschland 1923, S. 80–83 sowie Adolf Heuß, "Zur Schaffung einer Musiknothilfe", in: Zeitschrift für Musik 90/5 (1. Märzheft), S. 109–111.
[19] Gerhard Tischer, "Sorgen der Konzertvereine", in: Rheinische Musik- und Theater-Zeitung XXIV/5–6 (10.2.1923), S. 25.
[20] Vgl. Rheinische Musik- und Theater-Zeitung XXIV/7–8 (24.2.1923), S. 40.
[21] Vgl. die Anzeige in: Führer durch die Konzertsäle Berlins 4/3 (8.–21.10.1923).
[22] Zeitschrift für Musik 90/15–16 (Augustheft 1923), S. 336.
[23] Vgl. Klenke / Lilje / Walter, Arbeitersänger und Volksbühnen in der Weimarer Republik.
[24] Ebd., S. 152–167.
[25] Vgl. ebd., S. 157.
[26] "Die Familie im Kampf mit der Not", in: Vorwärts, 12.8.1923.
[27] Vgl. Klenke / Lilje / Walter, Arbeitersänger und Volksbühnen in der Weimarer Republik, S. 142 und 158.
[28] Vgl. die Chronik auf der Website des Musikvereins Schnelten e. V. (www.schnelten.com/chronik).
[29] Vgl. die Chronik auf der Website der Musikkapelle Unterreitnau 1823 e.V. (www.mk-unterreitnau.de/chronik).
[30] Klemperer, Leben sammeln, Tagebucheinträge vom 18.8., 28.3. und 24.10.1923, vgl. S. 735, 676 und 754.
[31] Kurt Weill an Ferruccio Busoni, Oktober 1923, zit. nach https://busoni-nachlass.org.
[32] Vgl. u.a. Die Musik XVI/2 (November 1923), S. 142 f. sowie Berliner Börsen-Zeitung, 24.10.1923, Morgenausgabe.
[33] Zweig, Die Welt von gestern, S. 305 f.
[34] Klemperer, Leben sammeln, Tagebucheintrag vom 27.8.1923, S. 740.
[35] Vgl. Longerich, Außer Kontrolle, S. 118.
[36] Vgl. hier und im Folgenden insbesondere Ziemer, "The Crisis of Listening in Interwar Germany"; Brendan Fay, "Conservative Music Criticism".
[37] Alfred Einstein, "Die Not der Deutschen Musiker und Deutscher Musik", in: Musikblätter des Anbruch 6/1 (Januar 1924), S. 24 f.
[38] Friedrich Adolf Geissler, "Das neue Publikum", in: Die Musik XV/12 (September 1923), S. 873.
[39] Berliner Zeitung, 2.9.1923, Morgenausgabe.
[40] Ebd.
[41] Fritz Jaritz, "Der Künstler und der Konzertsaal im Spiegel der gegenwärtigen Zeit", in: Signale für die Musikalische Welt 81/15 (11.4.1923), S. 338 f. Vgl. zu diesem Thema auch Edwin Janetschek, "Konzertunarten", in: Zeitschrift für Musik 87/9 (1920), S. 99–101.
[42] Max Butting, Musikgeschichte, die ich miterlebte, S. 148.
Sendungen: "KlassikPlus" am 17. Februar ab 19:05 Uhr und 18. Februar ab 14:05 Uhr sowie "Was heute geschah" in Allegro am 24. Februar um 7:40 Uhr auf BR-KLASSIK