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Jazz-Alben des Jahres Die Schönheit und die Fülle des Jazz

Jazz im Corona-Jahr 2020: Ganz wenig Live-Musik, aber sehr viele bemerkenswerte CDs. Hier die Top Ten unserer Jazzredaktion: Musik zum Verschenken, Selbst-Hineinversenken – oder einfach nur zum Entdecken.

Carla Bley Trio: "Life goes on", ECM Records 2669 (LC 02516)

Cover - Carla Bley Trio: Life goes on | Bildquelle: ECM Records Bildquelle: ECM Records Pianistin Carla Bley ist die vielleicht bedeutendste Komponistin des Jazz überhaupt, und sie liefert mit ihrem Album "Life goes on" den Hoffnungs-Soundtrack des Jahres 2020. Die Titelkomposition - natürlich ein Blues - strahlt eine zarte Lässigkeit, aber auch coolen Ernst aus. Das Stück entstand vor einigen Jahren nach einer schweren Krankheit, die Bley, Jahrgang 1936, überwinden konnte. Insgesamt drei langangelegte Suite kann man auf dem Album hören. Eine davon greift die ersten Worte des scheidenden US-Präsident Donald Trump auf, als er zum ersten Mal das Oval Office betrat, sagte er nur: "Beautiful Telephones".
Vergänglichkeit, der Sinn des Seins, aber auch der positive Blick in die Zukunft, das alles schwingt musikalisch auf dem Album "Life goes on" mit. Carla Bley und ihre beiden jahrzehntelangen Triopartner Bassist Steve Swallow und Saxophonist Andy Sheppard erschaffen mit scheinbar unspektakulären Mitteln eine tiefberührende Musik. "Life goes on", ein Meisterwerk!

Maria Faust Sacrum Facere: "Organ", Stunt Records STUCD 20072 (LC 9237)

CD Cover Maria Faust | Bildquelle: Stunt Records Bildquelle: Stunt Records Orgelmusik mal ganz anders: Unerhört kantig, mutig und faszinierend kombiniert die estnische Altsaxophonistin Maria Faust die Power eines Bläserensembles mit zwei Saxophonen, Tuba, Trompete, Posaune und Klarinette mit der Klangwelt einer Kirchenorgel, und zwar derjenigen der St. Nikolaus Kirche im estnischen Tallin. Mal sind das sperrig freie Klänge, mal sind sie - trotz des langen Nachhalls im Kirchenraum - verblüffend-fein verwoben, mal entwickeln sie einen hinreißenden Drive. Die Kompositionen spannen teilweise einen langen Bogen, andere sind verdichtete Fragmente, sogar ein Altsaxophon-Solostück ist dabei. Jede Komposition auf "Organ" hat einen ganz eigenen und sehr unkonventionellen Reiz. In diesen sakral-jazzigen Klängen kann man auch nach mehrmaligem Hören immer Neues und Ungewöhnliches entdecken.

Julian Hesse/ Stephan Plecher: "Wheel of life", HGBSBlue 20201 (LC 51353)

CD Cover Julian Hesse/Stephan Plecher | Bildquelle: HGBS Blue Bildquelle: HGBS Blue Mit dem Titel ihres gemeinsamen Debütalbums beziehen sich der Trompeter Julian Hesse und der Pianist Stephan Plecher auf das 1924 erschienene Buch "Das Leben des Menschen" des Berliner Arztes, Populärwissenschaftlers und Illustrators Fritz Kahn. "Wheel of life" haben die beiden jungen Musiker aus Bayern ihre ungemein stimmungsvolle und klangschöne Kontemplation über das Leben genannt. Die zwölf eigenen Kompositionen und dazu noch der Jazzklassiker "These Foolish Things" wirken wie je eine spannende Episode in einer Serie, bei der man immer sofort wissen möchte, wie die Geschichte weitergeht. Erzählt wird sie in wunderbar verwobenen Handlungssträngen in einem Tonfall, der auf bestechende Weise Klarheit und Wärme verbindet. In müheloser Leichtigkeit parlierend entfalten sie höchste Klangkultur und pflegen dabei einen herrlich fließenden, ganz offenen Umgang mit dem Vokabular der swingenden Tradition des Jazz und der Klassik. Spielwitz und Ernst ideal vereint in 53 Minuten Hörgenuss.

Keith Jarrett: "Budapest Concert", ECM 2700/01 (LC 02516)

Keith Jarrett: Budapest Concert | Bildquelle: ECM Bildquelle: ECM Vor kurzem erschütterte er seine Fans: Der Starpianist Keith Jarrett gab bekannt, dass er wegen der Folgen zweier Schlaganfälle nie wieder auftreten werde. Von Jarrett, der mit seinem "Köln Concert" von 1975 ein Millionenpublikum erreicht hat, gibt es jedoch noch mitreißende Aufnahmen aus Solo-Konzerten, deren letztes im Februar 2017 stattfand. Vom 3. Juli 2016 stammt die Ende Oktober 2020 veröffentlichte Aufnahme der Doppel-CD "Budapest Concert", aus der dortigen Béla-Bartók-Konzerthalle. Ungestüm und spannungsgeladen spielte er die erste Hälfte - und in der zweiten ließ er besonders bewegende Momente voll lyrischer Schönheit erblühen. Melodien zum Dahinschmelzen, alle improvisiert. Eine Sternstunde für sich eine der Zugaben, der Evergreen "It’s A Lonesome Old Town": Da schöpfte Jarrett tiefgründige Ausdruckskraft aus einer fast wie in Zeitlupe erscheinenden Langsamkeit. Keiner sonst kann das so.

Laura Jurd / Dinosaur: "To the Earth", Edition Records Edition Records EDN1154 (LC 28731)

CD-Cover Laura Jurd/Dinosaur: To the Earth | Bildquelle: Edition Records Bildquelle: Edition Records Sie gehört zu den herausragenden jungen Jazz-Instrumentalistinnen Europas: die 1990 geborene englische Trompeterin Laura Jurd. Zudem komponiert sie Musikstücke voller Esprit und mit prägnanter Kontur. Die Trompete Laura Jurds kann melancholisch erzählen, wiehernd Geräusche fabrizieren oder zackige Sprünge vollführen. Meister im Schaffen, Durchhalten und dann wieder im ironischen Brechen von Stimmungen sind die Musiker dieses Quartetts. Die listigen Einwürfe etwa von Pianist Elliot Galvin - selbst ein hochgehandelter Solist und Bandleader -, dazu die stoische Ruhe von Bassist Conor Chaplin und Schlagzeuger Corrie Dick: Das ist eine besondere Mischung, die in einigen Momenten auch zu himmlisch bluesgefärbter Schönheit führt.

Eva Klesse Quartett: "Creatures & States", Enja Yellowbird ENJ-9784 (LC 18386)

CD-Cover Eva Klesse Quartett: Creatures & States | Bildquelle: enja Bildquelle: enja Gute Traditionen soll man beibehalten. Bei Schlagzeugerin Eva Klesse und ihrer Band ist es gute Tradition, alle zwei Jahre ein neues Album herauszubringen, und die aktuelle Veröffentlichung "Creatures & States" hat den ziemlich konzertlosen Jazzherbst sehr versüßt. Geschichten von schrägen Gestalten und intensiven Zuständen erzählt die Schlagzeugerin zusammen mit ihren drei Mitspieler Altsaxophonist Evgeny Ring, Pianist Philip Frischkorn und Kontrabassist Stefan Schönegg. Die Musik des Quartetts ist erfrischend abwechslungsreich und steckt einen ganz weiten Jazzkosmos ab. Kopf und Herz gleichermaßen werden von den tollen Kompositionen und von der packenden Spielweise der vier angesprochen. Solchen in der Musik beschriebenen Kreaturen begegnet man gerne, und in solche Zustände versetzt man sich in Zeiten wie diesen mit Freude.

Eva Kruse: "New Legend", Prophone Records PCD222 (ohne LC)

CD Cover Eva Kruse | Bildquelle: Prophone Bildquelle: Prophone Die in Schweden lebende Hamburgerin Eva Kruse ist eine ausgezeichnete Kontrabassistin und mehr. Sie komponiert und ist - in alle Richtungen interagierend - dynamischer und zugleich in sich ruhender Mittelpunkt ihres Quintetts, das mit zwei starken Bläsersolist*innen und einer besonderen Klangkombination aufwartet, denn der Jazzsaxophonist Uwe Steinmetz spielt hier mit der klassisch ausgebildeten Oboistin Tjadina Wake-Walker zusammen. Mit ihrer schimmernden Tongebung im Satz und ihren leuchtenden Soli prägen die beiden den Sound der Band und unterstreichen die gesangliche Schönheit der Melodien. Den lyrischen Grundton ihrer Musik verbindet Eva Kruse mit kraftvollen, mitreißenden Grooves, die der hervorragende Pianist Christian Jormin mit subtiler Präsenz harmonisch unterfüttert, während Schlagzeuger Eric Schaefer sie mit komplexen Rhythmusmustern ausgestaltet. So gehen kontemplative Momente Hand in Hand mit pulsierender Bewegtheit, und es entsteht ein Klangstrom, in den man sofort eintauchen möchte.

Grégoire Maret, Romain Collin & Bill Frisell: "Americana", ACT 9049-2 (LC 07644)

GRÉGOIRE MARET, ROMAIN COLLIN & BILL FRISELL: "AMERICANA" | Bildquelle: ACT Music Bildquelle: ACT Music Wenn die Mundharmonika einen wundersam klagenden Ton anstimmt, und die Akkorde der Gitarre den Horizont weiten - wenn man glaubt, Geschichten aus der Musik herauszuhören, die sich einst am Lagerfeuer erzählt wurden, dann ist man ihnen erlegen - den "Americana" in ihrer schlichten Schönheit. Der Schweizer Harmonikaspieler Grégoire Maret und der französische Pianist Romain Collin sind vor Jahren in die U.S.A eingewandert und zollen der ethischen Offenheit und Vielfalt der amerikanischen Gesellschaft, die sie dazu bewogen haben, gemeinsam mit Gitarrist Bill Frisell musikalisch Respekt. In vorwiegend getragenen Tempi verbinden sie traditionelle Lieder und Tanzstücke mit der harmonischen Welt des Jazz, interpretieren aber auch zwischendurch Welthits wie Mark Knopflers "Brothers in Arms" in ihrer ganz eigenen, tief durchatmenden Spielweise. Fast sinnierend setzen sie ihre Töne und lassen sie wirken. Das strahlt eine innere Ruhe aus, die man in diesen Zeiten besonders gut gebrauchen kann.

Shake Stew: "(A)live", Traumton Records 4691 (LC 05597)

Shake Stew: (A)live - CD-Cover | Bildquelle: Traumton Records Bildquelle: Traumton Records Live-Jazz im vergangenen Jahr - eine Seltenheit. Ein brodelndes, mitreißendes Konzert, mitgrooven, fasziniert den Solisten lauschen und sie anfeuern, Euphorie und Leidenschaft hautnah erleben, all das fehlt! Das angesagte Septett "Shake Stew" des österreichischen Kontrabassisten Lukas Kranzelbinder mit zweimal Schlagzeug, zweimal Bass und drei Bläsern liefert die perfekte Ersatzdroge dafür. Das Album "(A)live" auflegen, Stereoanlage laut drehen, Augen schließen und einfach eintauchen in diesen energetischen Jazz-Rausch. Die Live-Aufnahmen aus den letzten Jahren, entstanden in Wien, München und Rotterdam, waren eigentlich nicht zur Veröffentlichung geplant. Wenn man diese Klänge jetzt hört, gibt es kaum einen besseren Zeitpunkt für die virtuose, vital-groovende und trancehafte Musikmischung von "Shake Stew".

Henri Texier: "Chance", Label Bleu LBLC 6738 (LC 09743)

CD-Cover: Henri Texier - Chance | Bildquelle: Bleu Records Bildquelle: Bleu Records Ein Kontrabass schafft Räume, eine Melodie fliegt lustvoll hoch: So können Stücke von Henri Texier beginnen. Dieser französische Kontrabassist, geboren 1945 in Paris, ist einer der ganz großen Musiker des europäischen Jazz, zudem ein angesehener Komponist von Jazzstücken ganz eigener Prägung. Seine zugleich lyrische und energiegeladene Musik hat nach wie vor eine atemberaubende Präsenz. In seinem aktuellen Quintett spielen auch sein Sohn Sébastien Texier (Saxophon, Klarinette) und der preisgekrönte Gitarrist Manu Codjia mit. "Chance", der Titel der CD, bedeutet "Glück". Henri Texier bezieht ihn auf sich und drückt im Booklet-Text die Dankbarkeit dafür aus, dass er immer noch die Kraft hat, die Fülle des Jazz auszukosten. Den Dank kann man ihm zurückgeben: für fesselnde Musik voller Wärme.

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