In Corona-Zeiten haben Jazz-Alben einen neuen Stellenwert erhalten: Nicht in Konzerten erreichen Musikerinnen und Musiker ihr Publikum, sondern mit Aufnahmen. Wir stellen vier besondere CDs vor.
Bildquelle: Unit Records
Jazztime - 08.12.20
Hören wir Gutes Vol. 1 - gekürzte Version
"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 1" hier zum Nachhören – mit aus rechtlichen Gründen gekürzten Musikstücken.
In dieser Sendung haben sich Beate Sampson, Ulrich Habersetzer und Roland Spiegel gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende vier Alben wurde in der Sendung gesprochen.
Yumi Ito ist eine Sängerin aus der Schweiz mit polnischen und japanischen Vorfahren. Sie komponiert aber auch, schreibt Songtexte und arrangiert ihre Musik für größere Besetzungen. Auf diesem Album sind zu hören: Flöte, Saxophon, Bassklarinette, Geige, Bratsche, Cello, Harfe, Vibraphon, Array Mbira, Bass, Schlagzeug. Itos Stücke sind farbenreiche Kompositionen, in denen sich die ungewöhnliche Instrumentierung zu reizvoll überlagerten Schichten fügt. Die Gesangsstimme ist da mal in Singer-Songwriter-Tradition zur plastischen Interpretation der sehr poetischen Texte eingesetzt, mal aber auch wie ein Instrument, das sich in den Holzbläsersatz einschmiegt. Die Songtexte sind von auffälliger sprachlicher Schönheit: "When there’s nothing more left to say / Darkness lights up your face / When silence begins to burst into / Thousand and one pieces/ What is this I feel for you?"
Mathias Rüegg - Solitude Diaries | Bildquelle: Lotus Records
Der aus der Schweiz stammende Wahl-Wiener Mathias Rüegg, einst
Gründer und Leiter des berühmten Vienna Art Orchestra, komponierte acht Wochen lang immer fünf Tage pro Woche ein Stück - und zwar immer zur selben Uhrzeit: Er fing um 18 Uhr an und zwang sich, um 22 Uhr aufzuhören. "Solitude Diaries", heißt das Album, das dabei entstand: Tagebücher der Einsamkeit. Sie enthält 40 Stücke. Elf Pianisten unterschiedlicher musikalischer Herkunft spielen auf der CD. Darunter waren, neben Rüegg selbst, Jazzer wie Oliver Kent und Elias Stemeseder, aber auch Pianisten, die in der Klassik und im Jazz zuhause sind, wie etwa Frantisek Janoska, der auch mit den Operngrößen Anna Netrebko und José Carreras gearbeitet hat. Außerdem taucht eine erst zwölfjährige Pianistin auf, die Mathias Rüegg in Hochbegabtenkursen entdeckt hat. Die Stücke sind Miniaturen von einer Dauer zwischen 45 Sekunden und knapp drei Minuten. Mal klingen sie romantisch, mal kantig zeitgenössisch-jazzig - und auch mal bluesig. Eine Reminiszenz an Gustav Mahlers Lied „Das irdische Leben“ ist ebenso mit darin wie eine Variation von "Oh du lieber Augustin". Es ist durchkomponierte Musik, ohne Improvisation. Aber die Spontaneität der Entstehung und die Klangfarben sowie der Rhythmus dieser Stücke führen dazu, dass man diese Musik wie Jazz hört, der voller Witz und musikalischem Hintersinn steckt. Die Stücke sind ganz sachlich überschrieben mit "Take 1" bis "Take 40", haben aber sehr sprechende Untertitel wie "Diese eine Form von Langsamkeit, die sie immer als zu schnell empfand".
Bildquelle: Whirlwind Recordings Der aus London stammende und in New York lebende Saxophonist Will Vinson, der israelische Gitarrist Gilad Hekselman und der aus Mexiko stammende Schlagzeuger Antonio Sanchez treffen hier als ein neues Gespann aus drei sehr starken Individuen zusammen. Die Stücke auf diesem Album ziehen die Zuhörerinnen und Zuhörer in ein spannendes Abenteuer der Farben und Sounds. Sie führen in elegische Weiten - wie etwa eine Komposition namens "Oberkampf" -, grooven satt und mit rockigem Gitarrensound - wie in einem Stück mit dem augenzwinkernden Titel "Scoville", das eine Hommage an Gitarrist John Scofield sein könnte - oder zeigen ein Klangkolorit aus der Heimat Gilad Hekselmanns - wie etwa in ‚"Elli Yeled Tov". Dicht ist stets der rhythmische Untergrund durch das hochpräzise Breitwand-Drum-Spektrum des Spitzenschlagzeugers Antonio Sanchez, und schier magisch sind Momente des Zusammenspiels, wenn sich die Parts des Gitarristen und des Saxophonisten mal schimmernd verzahnen, mal mit fein dosierter Emphase gegenseitig hochsteigern.
Bildquelle: Challenge Records Der Tenorsaxophonist Yuri Honing und der Pianist Wolfert Brederode, beide aus den Niederlanden, widmen sich in diesen Aufnahmen traumversunkenen Momenten. "Avalon" ist ein magischer Ort aus der Sage um König Artus. Als eine Insel in mystischem Nebel stellen sich viele diesen Ort vor. Ganz tief tauchen Yuri Honing und Wolfert Brederode hier in feine, dunkle Stimmungen ein - und das in Dialogen voller Zwischentöne. Ein Glanzstück ist ihre Instrumentalversion eines Lieds, das der Komponist Friedrich Hollaender einst für Marlene Dietrich schrieb, die es 1931 aufnahm. "Wenn ich mir was wünschen dürfte, möcht’ ich etwas glücklich sein; denn wenn ich gar zu glücklich wär’, hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein", heißt es in dem Text des Songs. Der fehlt hier, aber die Art, wie das Saxophon und das Klavier die verschattete Poesie der Melodie und der Harmonien in einen zarten, ungemein langsamen und tiefgründigen Dialog umformen, erzählt auch ohne Text eine fesselnde Geschichte.
Radio-Tipp:
Jazztime am 08.Dezember 2020
News & Roots: Hören wir Gutes und sprechen darüber
Aktuelle Jazzalben, vorgestellt und diskutiert von Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer