Ein faszinierendes Kulturland zwischen Europa und Asien mit einer leidgeprüften Vergangenheit. Die Pianistin Lusine Grigoryan und Musiker des Gurdjieff Ensemble aus Jerewan spielen am 19. November Lieder von Komitas, dem vor 150 Jahren geborenen Vater der armenischen Musik. Im Fokus der Live-Diskussion ab 20.05 Uhr stehen die Musikszene Armeniens und die Frage, wie sich die kulturelle Identität eines über die Welt verstreuten Volkes im Klang seiner Musik wiederfindet. Gäste sind die Sängerin Gayané Sureni, der Komponist David Haladjian und der Pianist Vardan Mamikonian.
Bildquelle: Robert Harding
Armenien gehört zu den ältesten christlichen Nationen der Welt. Über 1.000 Jahre alt sind seine geistlichen Lieder, die liturgischen Gesänge zählen zur ältesten schriftlich überlieferten Musik überhaupt. Nicht selten werden Komponisten aus dem 5. Jahrhundert genannt, es sind spirituelle Klänge wie vom Grund der Zeit. Die Volksmusik selbst besteht seit über 3.000 Jahren und spiegelt in ihrer Vielfalt der Stile und Gattungen die wechselvolle Geschichte des Landes wider unter wechselnden Machthabern – darunter Byzantiner, Mongolen, Osmanen, Perser und Türken. Seit dem 5. Jahrhundert sind Musikinstrumente belegt, unter den Blasinstrumenten gibt es die Kurzoboe Duduk und die Kegeloboe Zurna, unter den Saiteninstrumenten die Lauten Saz oder Tar, die Zither Kanon oder die gestrichene Spießgeige Kamantcha.
Armenien – Kloster Sewanawank | Bildquelle: © privat Die geistliche Musik und ein Großteil der mittelalterlichen Volksmusik Armeniens wird im Dialekt "Grabar" gesungen, dem klassischen armenischen Dialekt aus der Zeit des Heiligen Mesrop (361 – 440), der das armenische Alphabet erfunden hat. Mit diesem gemeinsamen Dialekt verständigen sich die Armenier bis heute in ihren Gemeinden rund um den Globus: im Libanon, in Jerusalem, Istanbul, Paris, Indien oder innerhalb des modernen Armeniens mit seiner Hauptstadt Eriwan. Seit dem Völkermord an den Armeniern im osmanischen Reich 1915/16, den 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, lebt das armenische Volk über die ganze Welt verstreut: rund 3,2 Millionen Armenier in der Republik Armenien, etwa ebenso viele in der Diaspora, hiervon ungefähr 40.000 in Deutschland. In den beseelten Melodien der Hirten-Oboe Duduk sind seine Erzählungen von Tod und Verfolgung, aber auch frohe Ereignisse bis heute lebendig geblieben. Armenien, das 1991 unabhängig wurde, ist heute betroffen von Armut, Abwanderung und Korruption. Sein reiches musikalisches Erbe aber ist der große Trumpf dieses kleinen Landes am Südhang des Kaukasus. Seine Komponisten Aram Chatschaturian, Avet Terterian und Tigran Mansurian genießen Weltruhm.
Komitas | Bildquelle: © Charents Museum of Literature and Arts, Yerevan Viele Transkriptionen der jahrhundertealten sakralen Hymnen stammen von dem Geistlichen Komitas, der mit bürgerlichem Namen Soghomon Soghomonian hieß und 1869 im osmanischen Reich zur Welt kam. Verehrt wird er bis heute als Vater der armenischen Musik. Er war es, der die fast verlorene armenische Musiknotation festhielt und mehrere tausende nur mündlich überlieferte armenische Volkslieder sammelte. Noch immer ist er im kollektiven Gedächtnis des armenischen Volkes und seiner Kultur fest verankert. Der ausgebildete Priester widmete sein ganzes Leben der Musik: als inspirierter Komponist geistlicher und weltlicher Werke, als Sänger, Chorleiter und Pädagoge, als Volksliedsammler und Musikforscher. Komitas' singuläre Bedeutung spiegelt sich auch darin, dass man dem im April 2003 in Paris errichteten Mahnmal für die Opfer des Genozids an den Armeniern von 1915 seine Gestalt verlieh. Bewahrt hat Komitas auf seinen vielen Streifzügen durch das Land Armenien nichts weniger als die Seele des Volkes, die er in der Vokalmusik der ländlichen Bevölkerung fand. "Für den Bauern", meinte Komitas 1907, "ist das Erfinden eines Gesanges ein ebenso gewöhnlicher und natürlicher Vorgang wie für uns das alltägliche Gespräch."
Samstag, 16. November, 23:05 Uhr
Musik der Welt
Melodien zwischen Orient und Okzident – Armeniens moderne Musikszene
von Julia Smilga
Sonntag, 17. November, 23:05 Uhr
Musik der Welt
Lieder der Nacht: Armenien
von Christoph Hahn
Dienstag, 19. November, 18:30 Uhr – Konzert
Lusine Grigoryan (Klavier)
Norayr Gapoyan (Duduk)
Davit Avagyan (Tar)
Eintritt frei.
BR-KLASSIK sendet das Konzert am 11. Januar 2020, 23:05 Uhr.
Dienstag, 19. November – Podiumsdiskussion & Musik ab 20:05 Uhr (Live auf BR-KLASSIK)
Gayané Sureni, Sängerin
David Haladjian, Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler
Vardan Mamikonian, Pianist
Moderation: UIrike Zöller
Anschließend auf BR-KLASSIK:
Das Gurdjieff Folk Instruments Ensemble beim Rudolstadt-Festival 2014
Sie ist aus Aprikosenholz und mindestens 1500 Jahre alt: 2005 wurde die Duduk in die UNESCO-Liste der "Meisterwerke des immateriellen Erbes der Menschheit" aufgenommen. Während in Nachbarländern wie Georgien oder der Türkei dieses Rohrblattinstrument auch aus dem Holz des Maulbeer-, Birnen- oder Olivenbaums gefertigt wird, ist ihre armenische Schwester immer aus dem rötlichen Holz des Aprikosenbaums gebaut, meist aus dem Kern des Stammes. Man vermutet, dass gerade die extremen Witterungsbedingungen den charakteristischen Klang, der leicht nasal und samten zugleich ist, hervorbringen. Hitze, Feuchtigkeit und Frost, denen auch die Menschen, vor allem die Hirten im bergigen kaukasischen Hochland ausgesetzt sind. So wurde die Duduk zum armenischen Nationalinstrument schlechthin, einem Holzblasinstrument mit Symbolkraft, in dem sich die Seele des armenischen Volkes spiegelt – und das über Jahrhunderte hinweg zu Hochzeiten und Beerdigungen aufspielte.
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Norayr Gapoyan, Duduk | Bildquelle: © Garegin Aghaberkyan
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Davit Avagyan, Tar | Bildquelle: © Garegin Aghabekyan
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Lusine Grigoryan, Klavier | Bildquelle: © Susanna Martirosyan
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Gayané Sureni, Sängerin | Bildquelle: © Ludwig M. Bittner
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Lusine Grigoryan (Klavier) - Norayr Gapoyan (Duduk) - Davit Avagyan (Tar) bei der Probe zum Contrapunkt-Konzert | Bildquelle: © Susanne Schmerda
Für das BR-KLASSIK-Konzert wird Norayr Gapoyan mit seiner Duduk aus Jerewan anreisen, wo er 2016 sein Studium am Staatlichen Komitas-Konservatorium abschloss. Er ist Träger mehrerer nationaler und internationaler Preise und Mitglied im Staatlichen Volksorchester der Republik Armenien und im Gurdjieff Folk Instruments Ensemble, das 2008 von Levon Eskenian gegründet wurde. Gemeinsam mit seinem Landsmann Davit Avagyan an der tar-Laute und der Pianistin Lusine Grigoryan, ebenfalls Absolventin des Staatlichen Komitas-Konservatoriums, spielt er Lieder und Tänze von Komitas. Bis heute wird Komitas, der vor 150 Jahren im osmanischen Reich geboren wurde und armenische Volkslieder sammelte, von seinen Landsleuten hochverehrt – auch er eine Figur mit großer Symbolkraft für die armenische Identität.
Gayané Sureni hat in Armenien klassischen Gesang, Jazz und Volksmusik studiert und lebt in Nürnberg. Als Sängerin wurde sie bereits in den Vatikan eingeladen. Ein Fokus ihrer Konzerte sind die lebhaften und meditativen Lieder ihrer Heimat Armenien, für die sie im Duo mit dem iranischen Perkussionisten Hadi Alizadeh 2017 den bayerischen Creole-Weltmusikwettbewerb gewann. Beim Themenabend "Armenien – Musik als Heimat" ist sie nicht nur als Sängerin zu erleben, sondern diskutiert auch auf dem Podium gemeinsam mit David Haladjian und Vardan Mamikonian.
Vardan Mamikonian, der in Eriwan, Moskau und bei Lazar Bermann in Italien Klavier studiert hat, ist gebürtiger Armenier und eingebürgerter französischer Staatsbürger. Er lebt in Paris und organisierte 2015 weltweit Gedenkkonzerte für den Genozid am armenischen Volk 1915, bei dem 1,5 Millionen Menschen starben. "100 concerts pour le centenaire" nannte der international mit Bach, Liszt und Komitas gefeierte Pianist diese Konzertreihe zum 100. Jahrestag des Völkermordes. Freunde und Kollegen wie Lorin Maazel, Jewgenij Kissin und Arabella Steinbacher unterstützten ihn dabei. Ein klares Bekenntnis: "Wir spielten mehrere Jahre, in Dutzenden Ländern, auch in solchen, die den Genozid nicht anerkannt haben", so der im sowjetischen Jerewan aufgewachsene Pianist. Frankreich übrigens erkannte den Völkermord an den Armeniern 2001 offiziell an – dass sich die Franzosen gut auskennen in der armenischen Geschichte, liegt nicht zuletzt an Charles Aznavour, dessen Eltern einst vor dem Genozid fliehen mussten.
David Haladjian, Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler | Bildquelle: David Haladjian Eigentlich wollte David Haladjian, geboren 1962 in Jerewan und dort am staatlichen Komitas Konservatorium ausgebildet, sich nur im Bereich der Elektroakustischen Musik weiterbilden, als er 1991 für ein Auslandsjahr an die Musikakademie Basel ging. Seitdem ist er in der Schweiz geblieben. In seinen Kompositionen aber, darunter geistliche Chorwerke wie die "Missa de Lumine", sind die armenischen Wurzeln stets hörbar, auch wenn der Komponist armenische Volks- oder Kirchenmusik nie direkt zitiert. "Es ist in mir", bekannte der Schüler von Avet Terterian einmal. "Das Armenische erklingt in ganz kleinen Intonationen. Die Musik befindet sich zwischen den Tönen". Es ist schon passiert, dass ein Komponistenkollege nach drei Akkorden wusste, dass David Haladjian Armenier ist. Die Heimat – sie ist überall dabei, und sei es in Gestalt eines einzigartigen Klangs.