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NEUE JAZZ-ALBEN, VORGESTELLT IM GESPRÄCH - Vol. 14 Hören wir Gutes und reden darüber!

Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer überraschen sich und Sie mit aktuellen Jazzalben. Dieses Format wurde mit dem Deutschen Radiopreis 2022 als "Beste Sendung" ausgezeichnet, hier die 14. Ausgabe von "Hören wir Gutes und reden darüber".

Bildquelle: Pi Recordings

BR-KLASSIK - Jazztime

Hören wir Gutes und reden darüber 13.12.22

"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 14" hier zum Nachhören - mit aus rechtlichen Gründen gekürzten Musikstücken.
In dieser Sendung haben sich Ulrich Habersetzer, Roland Spiegel und Beate Sampson zum vierzehnten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende drei Alben wurde in der Sendung gesprochen.

Tyshawn Sorey: "The Off-Off Broadway Guide to Synergism" (Pi Recordings)

 Drei Stunden und siebenundvierzig Minuten, 19 Stücke, verteilt auf drei CDs: Ein Live-Album der Extra-Klasse! "The Off-Off Broadway Guide to Synergism" vom Trio des US-Schlagzeugers Tyshawn Sorey mit Kontrabassist Russell Hall, Pianist Aaron Diehl und dem Altsaxophon-Überflieger Greg Osby als Gast ist eine bemerkenswerte Mammut-Veröffentlichung, in der die Lust am Live-Erlebnis ganz besonders deutlich wird.
Die Band trat im März 2022 an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen in der "Jazz Gallery" in New York auf. Einige Standards, aber auch Unbekannteres und eine Eigenkomposition hatten die vier im Repertoire, mehrere Stücke sind in unterschiedlichen Versionen zu erleben. Mal dauert der Klassiker "Three little words" neun Minuten, mal ganze zwanzig Minuten. So klingt aufregender Jazz in scheinbar altbekanntem Quartettformat: innovativ, aber mit Wurzeln in der Tradition - frei, aber immer mit Bezug zum Ausgangsthema - energetisch, aber auch mit Sinn für zarte Momente. Tyshwan Soreys Dreifach-Album "The Off-Off Broadway Guide to Synergism", knapp vier Stunden Jazz, die sich wirklich lohnen!

 Matt Carmichael: "Marram" (Edition Records)

CD Cover Matt Carmichael | Bildquelle: Edition-Records Bildquelle: Edition-Records Das ist Musik von völlig eigener Schönheit. Der erst 23 Jahre alte schottische Saxophonist Matt Carmichael hat einen bemerkenswerten Sinn für Melodien, die sofort ins Ohr gehen und trotzdem nie effekthascherisch wirken. Er und seine Mitmusiker spielen die neun Eigenkompositionen auf dem Album "Marram" mit völlig unangestrengter Virtuosität. Atmende Linien ziehen die Hörerschaft sofort ins Geschehen. Besonders reizvoll ist die Kombination von Carmichaels Tenorsaxophon mit der scharfkonturiert fein gespielten Geige des preisgekrönten Folk- und Jazzmusikers Charlie Stewart. Der Saxophonton des Bandleaders hat Fülle und große Biegsamkeit, und zumal mit dem kantig-expressiv gespielten Klavier von Fergus McCreadie (25 Jahre und ebenfalls ein junger Schotte zum Aufhorchen) lädt er zum genussvollen Schwelgen ebenso ein wie zum Staunen über fetzige Power. "Marram" bedeutet Dünengras, und von Landschaft und der von ihr geprägten Folk-Melodik ist diese ungewöhnlich ergreifende Musik hörbar inspiriert.

Bruno Angelini Open Land Quartet: "Nearly nothing, almost everything" (La Buissonne)

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Bruno Angelini: Open Land Quartet: Nearly nothing, almost everything | Bildquelle: La Buissonne Bildquelle: La Buissonne "Nearly nothing, almost everything" verspricht der Titel des zweiten Albums von Bruno Angelinis  Open Land Quartet. Der französische Pianist hat sich zu den acht Kompositionen auf dem dritten Album seiner vor 2015 gegründeten Band von Gedichten inspirieren lassen, die er als minimalistisch bezeichnet - geschrieben von einer Reihe internationaler Autor*innen wie etwa der Französin Ada Mondès, dem Inder Chandak Chattarji und dem indigenen Kanadier Jacob Nibénegenesabé vom Volk der Cree. Ihre Poesie beflügelt Bruno Angelinis Musik, die nichts Reißerisches hat, sondern sich zu einem großen Teil in einem Schwebezustand bewegt. Sparsam und wirksam in den Klangraum gesetzte Töne verbinden sich hier mit flächigen Sounds in einem permanenten Werden und Vergehen. Zusammen mit dem Violinisten Regis Huby, der auch sehr subtil elektronische Effekte einsetzt, dem Bassisten Claude Tchamitchian und dem Schlagzeuger Edward Perraud baut Bruno Angelini Dynamiken auf, deren Intensität sich nicht in Lautstärken und auch nur sehr selten in Geschwindigkeit bemisst, sondern in gestalterischer Tiefe. Im gemeinsamen Auskosten der Klänge und ihrer Entwicklung, aber auch im Puls rhythmischer Überlagerungen formt die Band eine Atmosphäre der ruhigen Klarheit. Die Soli der Musiker bleiben so verwoben mit dem Gesamtklang, dass man sie selten als solche bezeichnen würde. Passagen, in denen mit feinster Agogik Spannung aufgebaut wird, ergießen sich in fließende Vorwärtsbewegung, während sich der Pianist und Bandleader im Spiel eher zurückhält. Aber nein, das ist keine Zurückhaltung, das sind superbewusste Entscheidungen für Töne im immerzu richtigen Moment. Chapeau!

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