Sie zählt zu den großen Nachwuchstalenten des europäischen Jazz: Die Pianistin Johanna Summer hat mit Improvisationen über klassische Klaviermusik einen ganz eigenen Sound gefunden. Für uns hat sie sich spontan an den Flügel gesetzt.
Bildquelle: Roland Spiegel
Ob wir nicht doch vielleicht einen Raum mit Klavier hätten, fragt sie im Vorgespräch am Telefon. Dann könnte sie vielleicht ein paar Sachen konkret erläutern. Gesagt, gesucht! Die Pianistin Johanna Summer, geboren 1995 in Plauen, ist eine der im Augenblick besonders vielbeachteten Jazzmusikerinnen in Deutschland, und ihr Besuch als Studiogast bei BR-Klassik im Funkhaus München soll eine Gelegenheit sein, mehr über ihr Spiel und ihr Herangehen an Improvisationen zu erfahren. Und so wird schließlich kein reiner Interview-Termin daraus – sondern einer, in dem Johanna Summer auch zweimal während des Studiogesprächs an einem Flügel im "Proberaum 6" des BR spontane Stücke improvisiert: einmal ihre Moment-Version eines Jazz-Standards und einmal die freie Entwicklung eines Stücks über eine Tonfolge, die ihr wenige Sekunden vorher vorgelegt wurde.
Vor kurzem hat Johanna Summer ihr aktuelles Album "Resonanzen" veröffentlicht (ACT Music). Darin setzt sie fort, was sie 2020 mit ihrer CD "Schumann Kaleidoskop" begonnen hatte: Sie reagiert auf Stücke des klassischen Klavier-Repertoires auf ihre eigene, spontan improvisierende Art. Auf dem aktuellen Album finden sich Stücke, die von konkreten Vorlagen von Bach, Beethoven, Grieg, Ligeti und anderen inspiriert sind. Häufig ist nicht sofort erkennbar, auf welche Vorlage es sich bezieht.
Johanna Summer | Bildquelle: Roland Spiegel Etwa beim Stück "Beethoven" – Johanna Summers Reaktion auf den zweiten Satz der Klaviersonate op. 28 in D-Dur des Komponisten. Hier schälen sich erst nach einer Weile Töne heraus, die sich konkret auf den Beethoven-Satz beziehen. Das liegt an Johanna Summers Arbeitsweise: Wie sie in der Sendung auf BR-KLASSIK ausführlich schildert, beginnt sie aus einer momentanen Stimmung heraus zu spielen und weiß bei den ersten Tönen manchmal noch nicht, welches klassische Stück in ihre Improvisation einfließen wird. Wie aus dem Unterbewussten taucht Musik beim Spielen in ihr auf, nimmt Form an und fließt in das neue Stück ein. Der Pianist Igor Levit schwärmte über das Album "Schumann Kaleidoskop" wie folgt: "Johanna Summer ist eine herausragende Jazzpianistin. Sie ist so zentriert und bei sich, geht so souverän und frei mit dem Material um und trifft doch die ganze Zeit ihren eigenen Ton."
Johanna Summers Methode, sich dem Moment zu überlassen und sich und andere mit einem Stück zu überraschen, kann man in der Jazztime auf BR-KLASSIK zweimal eingehend verfolgen. In den Anfangsminuten der Sendung spielt sie einen Jazz-Standard, ohne zu verraten, um welchen es sich handeln wird (ihrer Auskunft nach wusste sie anfangs auch noch nicht, auf welchen die Improvisation hinauslaufen würde). Um den Hörerinnen und Hörern den Spaß am Raten nicht zu nehmen, wird an dieser Stelle das Stück auch nicht genannt.
An einer anderen Stelle in der Sendung stellte sich Johanna Summer dann noch für ein anderes Experiment zur Verfügung: Sie improvisierte über eine vorgegebene Tonfolge. Die Tonfolge war nach einem einfachen System aus den Buchstaben von Johanna Summers Namen abgeleitet und umfasste vier Takte im Viervierteltakt. Darüber improvisierte Johanna Summer dann einige Minuten, und das Ergebnis ist ungekürzt und ungeschnitten in der Sendung zu hören.
Johanna Summer und Roland Spiegel | Bildquelle: Michael Gottfried, ACT Music & Vision Improvisation ist das A und O des Jazz und kann für manchen wie eine kinderleichte Übung erscheinen. Das ist sie jedoch nicht. Die Bedingungen müssen stimmen – die Musikerinnen und Musiker brauchen ein atmosphärisches Setting, das ein Sich-Versenken in Töne möglichst fördert. Nach den Aufnahmen für ihr aktuelles Album in einer Kirche in Berlin machte Johanna Summer die Erfahrung, dass etwas fehlt. Deshalb überzeugte sie, nachdem die Aufnahmen alle gemacht und eigentlich fertig fürs Mastering waren, ihr Label, die Einspielungen zu verwerfen und neue zu machen. Die ganze Prozedur also von vorn – die Label-Leitung war "not amused", wie man sich vorstellen kann – und in einer etwas modifizierten Situation: Johanna Summer lud sich einige Bekannte ein, um sich nicht in einer sterilen Studio-Situation zu fühlen, sondern in einem Konzert vor kleinem, ausgewählten Publikum. Und schon, sagt sie, seien ihre Improvisationen anders geworden: unmittelbarer, sinnlicher, Stücke, in denen man das spontan planende Denken der Interpretin nicht so deutlich spüre wie beim ersten Versuch.
Johanna Summers Stücke auf "Resonanzen" klingen oft wie klassische Musik. Denn vom Tonmaterial ist diese Musik her nicht von Jazz und Blues geprägt, von Blue Notes und typischer Jazz-Harmonik. Der Begriff "Jazz" ist daher eigentlich zu eng für diese Musik. "Improvisierte Musik" wäre der wohl zutreffendste Begriff. Beim Publikum stößt diese oft auf Jazzfarben verzichtende Jazzmusikerin jedoch auf offene Ohren. Denn ihre Improvisationen entfalten einen eigenen Sog.
Hörerinnen bzw. Hörer, die sich bisher wenig mit klassischer Klaviermusik beschäftigt und weder die "Musica ricercata" von György Ligeti noch die Klaviersonate op. 28 von Beethoven oder die "Sinfonia Nr. 11" in g-Moll für Klavier von Bach im Ohr haben, müssen keine Berührungsängste vor Johanna Summers Musik entwickeln: Die jeweiligen klassischen Vorlagen müsse man vor dem Hören ihrer Improvisationen nicht unbedingt kennen, sagt Johanna Summer (auch wenn es natürlich nicht schade). Denn bei ihr, wie bei jedem guten Jazz (und auch bei Werken von Bach, Beethoven und allen anderen), ist es vor allem wichtig, was jemand improvisierend oder komponierend aus einem musikalischen Gedanken macht. So kann man mit Johanna Summers Musik auch üben, sich einfach der Schönheit eines musikalischen Geschehens zu überlassen, ohne immer gleich nach dessen Wurzel zu graben. Musik, die für sich selbst steht.
Sendung: "All That Jazz" am 04. Mai 2023 ab 23:05 Uhr auf BR-KLASSIK