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Jazzfest Berlin 2019 – der Auftakt Ein riesiges Haus voller Töne

Gleich mehrere Motti hat das Jazzfest Berlin 2019, das vom 31. Oktober bis 3. November stattfindet. Sie klingen so: "Wait for the Echo", "We are Starzz", "A Mother's Work is Never Done". Sie wechseln durch, wenn man auf die Website des Festivals geht. Das prägnanteste und sicherlich sinnvollste lautet: "Escape Nostalgic Prisons". Befreie dich aus nostalgischen Gefängnissen. Genau dafür ist vor einem Jahr die künstlerische Leiterin Nadin Deventer angetreten.

Anthony Braxton – Saxophonist und Komponist | Bildquelle: Peter Gannushkin

Bildquelle: Peter Gannushkin

(Foto: Der Saxophonist Anthony Braxton)

Die erste Frau an der Spitze des traditionsreichen, seit 1964 existierenden Festivals (damals noch als "Berliner Jazztage") soll die Veranstaltung in die Zukunft führen. Mit experimentellen Präsentationsformen, Talkrunden, Filmen, einer Klang-Installation des Berliner KIM Collective und Nachbarschaftskonzerten ("Kiezkonzerte – beim Friseur, in einem Wohnzimmer, einer Galerie und einer Weinhandlung") wird ein weites Spektrum des Erlebens und Reflektierens von Jazz geboten.

60 Musiker spielen 450 Stücke

Am 31. Oktober wird die 56. Ausgabe des Festivals mit dem Großprojekt "Sonic Genome" des Saxophonisten und Komponisten Anthony Braxton im Martin-Gropius-Bau eröffnet: 60 Musikerinnen und Musiker aus Australien, Deutschland und den USA sind daran beteiligt. Sie greifen auf Material aus bis zu 450 Kompositionen Anthony Braxtons zurück. Anthony Braxton, geboren 1945 in Chicago, Saxophonist und Komponist, gehört zu den prägnantesten Figuren der Jazz-Avantgarde seit den 1970er Jahren. Seine Musik war stets ungemein energiegeladen und zugleich hochkomplex. Manche seiner Kompositionen tragen Titel, die aus geometrischen Formen bestehen. Braxton verdiente zeitweise auch mit Schachspielen sein Geld. Musikalisch hat er sich nicht nur von großen Figuren des Jazz inspirieren lassen, sondern auch von Komponisten der zeitgenössischen E-Musik, wie etwa Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis. Ein Grenzgänger – ein Musiker mit völlig eigenem Profil.

Die Bühne wird zum Publikumsraum

Das Haus der Berliner Festspiele | Bildquelle: picture alliance/Annette Riedl/dpa Das Haus der Berliner Festspiele | Bildquelle: picture alliance/Annette Riedl/dpa Hauptveranstaltungsort des Festivals ist nach wie vor das Haus der Berliner Festspiele, das ist die ehemalige "Freie Volksbühne" des Regisseurs und Intendanten Erwin Piscator im Westberliner Stadtteil Wilmersdorf. Dieser Theaterraum aus den frühen 1960er Jahren für 1.000 Besucher im Großen Saal bietet dem Jazzfestival – das einst in der prächtigen Berliner Philharmonie stattfand – seit vielen Jahren eine Bühnenheimat von stilvoller Intimität. Ein Raum, in dem man gut zuhören kann – und von dem aus stets abendfüllende Live-Sendungen in den Hörfunksendern der ARD übertragen werden. Diesmal wird es im großen Saal weniger klassisch zugehen: Der Raum ist umgestaltet, Teile des Zuschauerraums wurden zur Bühne, Teile der Bühne wiederum sind offen fürs Publikum – so dass die Zuhörer von drei Seiten das Geschehen verfolgen können. An zwei Festivaltagen wird der Raum auch als "Late Night Lab" für experimentelle Zusammentreffen unterschiedlicher Musiker fungieren.

Sich zusammenfalten, um zu überleben

Joachim Kühn | Bildquelle: Act Ehrt Ornette Coleman: Joachim Kühn | Bildquelle: Act Zu den Programm-Besonderheiten gehören folgende Punkte: Die australische Gitarristin Julia Reidy hat ein Auftragswerk geschrieben, das vom Australian Arts Orchestra uraufgeführt wird; der Schlagzeuger Christian Lillinger bringt sein Projekt "Open Form for Society" auf die Bühne. Am Samstag, dem traditionell wichtigsten Tag des Festivals, werden unter anderem Pianist Joachim Kühn und Klarinettist Michel Portal mit der hr-Bigband das Konzert "Melodic Ornette" spielen – eine Hommage an den bedeutenden Free-Jazz-Pionier Ornette Coleman, wobei es von besonderem Reiz ist, dass die beiden Solisten je ein herausragender Musiker aus Frankreich (Portal) und Deutschland (Kühn) sind. Trompeter Ambrose Akinmusire führt beim Festival sein Programm "Origami Harvest" auf – in dem er Jazz mit der Musik eines Streichquartetts mischt. Der Titel, in dem der Name des Faltspiels Origiami vorkommt, bezieht sich laut Akinmusire darauf, dass Afroamerikaner in der Geschichte der USA auch nach Ende der Sklaverei viele Einschränkungen hinnehmen mussten – sich also verbiegen und, wie Akinmusire sagt, "zusammenfalten" mussten, um existieren zu können. Außerdem ist am Samstagabend auch die französische Komponistin und Pianistin Eve Risser zu erleben.

Sauna in der Gedächtniskirche

Am Abschlusstag, dem Sonntag, geht die finnisch-norwegische Folkmusikerin und Sängerin Sinikka Langeland mit ihrem Projekt "Sauna Cathedral" in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Außerdem wird der bedeutende Albert-Mangelsdorff-Preis an den Schlagzeuger und Percussionisten Paul Lovens verliehen, der seit Jahrzehnten eine starke Figur der europäischen Jazz-Avantgarde ist. Auch ein Preisträger der Internationalen Jazzwoche Burghausen ist beim Jazzfest Berlin zu erleben: Der britische Pianist Elliot Galvin tritt im Jazzclub A-Trane auf.

Gründe, um den Jazz zu lieben?

Viele Facetten, viele Erlebnismöglichkeiten. Jazz als Event, der durch die Programmauswahl und viele unterstützende Diskussionsforen und Filmvorführungen auch stark auf Substanz abzielt – und nicht zuletzt die gesellschaftliche Relevanz einer Musik unterstreicht, die wie keine andere Kunstform spontan auf veränderte Situationen reagieren kann. "111 Gründe, Jazz zu lieben" heißt ein Buch des Münchner Musikjournalisten und BR-Mitarbeiters Ralf Dombrowski, das rechtzeitig zum Jazzfest Berlin erscheint und auf sehr inspirierte Art Anhaltspunkte erörtert, die den Jazz zu einer aufregenden und immer noch aktuellen Musik machen. Noch weitere Gründe, Jazz zu lieben, könnte das Jazzfest Berlin mit seinem Programm und seiner Absteckung aktueller Horizonte liefern. Für alle, die nicht dort sein können: BR-Klassik und Bayern 2 übertragen Live-Musik vom Festival.

Jazzfest Berlin 2019 im BR

BR-KLASSIK

Samstag, 02. November, von 20.05 Uhr bis 24 Uhr live aus dem Haus der Berliner Festspiele
Mit den Konzerten von Joachim Kühn / Michel Portal, von Ambrose Akinmusire und Eve Risser

BAYERN 2

In der Nacht zum Sonntag, 03. November von 0.05 Uhr bis 4.58 Uhr
radioJazznacht extra
Mit den Moderatorinnen und Moderatoren Heidi Eichenberg, Claudia Schober, Julia Neupert, Ulf Drechsel, Günther Huesmann – sowie den BR-Musikmoderatoren Ulrich Habersetzer und Roland Spiegel.

Sendung: "Leporello" am 31. Oktober 2019 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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