Vieles sollte anders sein bei dieser aktuellen Ausgabe des bekanntesten Jazzfestivals in Deutschland. Und so war es auch. Doch Manches, was die faszinierende Musik Jazz zu bieten hat, blieb diesmal auf der Strecke.
Bildquelle: Adam Janisch
(Bild: Eröffnung des Jazzfests Berlin 2019 mit Anthony Braxton's Sonic Genome)
Die Eröffnung war spektakulär. Fast sechs Stunden Musik aus allen Ecken des riesigen Martin-Gropius-Baus. Der 1945 in Chicago geborene Saxophonist und Komponist Anthony Braxton realisierte mit sechzig Musikern unter anderem aus Deutschland, den USA und Australien sein raumgreifendes Projekt "Sonic Genome". Die Musiker schöpften aus einem Pool von 450 Kompositionen des großen Avantgardisten. Im Lichthof des Baus, unweit einer Pflanzen-Installation zur aktuellen Ausstellung "Garten der irdischen Freuden", saßen die Musiker ohne Abgrenzung zum interessiert wandelnden Publikum – und irgendwo am Rand stand ein weißhaariger Mann mit funkelnder runder Brille und machte Handbewegungen, als wolle er ein Segelflugzeug durch eine Schneise leiten. Doch die Bewegungen signalisierten Crescendo, Decrescendo, Balance – etwa wenn er sich mit ausgebreiteten Armen mal nach links, mal nach rechts beugte – und Bewegung von Tönen im Raum. Mit einem lang anhaltenden und sich dann allmählich in Einzelteile auflösenden Akkord begann es. Und es endete fast Punkt ein Uhr nachts mit Tönen, die sich in alle Himmelrichtungen oben auf der Galerie immer weiter entfernten und schließlich erstarben.
Anthony Braxton | Bildquelle: Peter Gannushkin Ein Musik-Erlebnis, das die Distanz zwischen Musikern und Publikum auflöste und beim gemeinsamen Erkunden der unterschiedlichen Räume ständig neue Hörperspektiven eröffnete. Musikerinnen und Musiker gingen mit dem Notenständer in der einen Hand und mit dem Instrument in der anderen von Ort zu Ort. Aus allen Ecken kamen Klänge, Damenstimmen von der Empore, Streicherklänge unten im Saal, von irgendwoher eine schrille Melodica, auf dem Treppenabsatz ein Bläser-Ensemble. Alles überlagerte sich. Man konnte Spielern über die Schulter schauen und ein paar Noten aus einem Stück namens "220" mitlesen. Oder einfach nur in einer Ecke kauern und Eindrücke sammeln. Es konnte passieren, dass man, am Treppengeländer lehnend, ein paar Musikern lauschte – und von hinten plötzlich durch unerwartete Posaunentöne aus der Kontemplation gerissen wurde. Anthony Braxton selbst verschwand immer mal und tauchte später wieder auf, spielte gegen Mitternacht mit einigen anderen Saxophonisten zusammen, er auf dem Sopranino-Saxophon, eine intensiv verschränkte Einlage – und wirkte, als er dann das Instrument absetzte, selbst wie ein neugieriger Betrachter des Geschehens. Und Zuhörer. Dann stand er da mitten im Lichthof, den Kopf nach oben gerichtet, und war ganz Ohr.
Neue Präsentationsformen, andere Erlebnisse mit der Musik: Das war das Ziel der jetzt im zweiten Jahr aktiven Künstlerischen Leiterin des Jazzfests, der Kulturmanagerin Nadin Deventer. "Escape Nostalgic Prisons" lautete eines der verschiedenen Motti des Festivals, und das war klares Programm auch in der Auswahl der Musik an den vier Abenden. Der Hauptspielort des Festivals, das Haus der Berliner Festspiele, war bereits umgebaut für ein Theaterprojekt, das in zwei Wochen stattfindet und in dem ein Dorf ins große Haus gebaut werden soll ("Diamante" von Mariano Pensotti). Die ohnehin weitläufige Bühne war ins Parkett hinein ebenerdig erweitert. Auf der zusätzlichen Spielfläche lagen fürs Jazzfest 30 Matratzen, auf denen es sich ein Teil des Publikums bequem machen konnte – und links und rechts der Spielfläche waren weitere Sitzreihen angebracht. Das führte dazu, dass manche Bands auf der riesigen Bühne etwas verloren wirkten und noch dazu meistens nicht zum größten Publikumsteil hin ausgerichtet waren: Eine ganze Bigband etwa sahen die meisten Besucher nur von der Seite. Auch akustisch war Vieles problematisch; hinter und neben der Bühne klang die Musik viel undifferenzierter, als sie hätte sein müssen – gewiss ein schier unlösbares Problem, aber ein selbstgemachtes. Wer sich da nach einer klassischen Guckkastenbühne sehnte und nach einer völlig normalen, sicher "nostalgischen" Hörsituation, hatte gute Gründe dafür.
Christian Lillinger | Bildquelle: © Konstantin Kern Schwierige Bedingungen also nicht nur für gewohnheitsversessene Zuhörerinnen und Zuhörer. Und in diesem Ambiente bot sich dann ein Programm, das große Akzente auf schwierige und niemals leichtverdauliche Avantgardemusik legte. Am zweiten Abend des Festivals etwa hatte man soeben die hochkonzentrierte, nervöse, irrwitzig schnelle, abstrakte, zum atemlosen Staunen bringende Musik des Schlagzeugers und Komponisten Christian Lillinger erlebt, ein Projekt namens "Opern Form for Society" mit drei Tasteninstrumentenspielern, zwei Vibraphonisten, zwei Bassisten und einem Cello plus dem hochkomplex spielenden Chef an den Drums – und dann ging es im selben Saal wenig später weiter mit der ebenfalls sehr abstrakten, lyrisch fein abgestimmten Musik des "Australian Art Orchestra" und schließlich am Ende des Abends mit einem "Late Night Lab", in dem drei frei improvisierende Ensembles namens "Kaos Puls", "Moskus Trio" und "Mopcut" aufeinandertrafen und in einem langen improvisierten Stück ihre Musik miteinander verwoben: wirbelnde, dröhnende, tosende, aber auch manchmal schattenhaft leise Musik, immer mit der Grenzüberschreitung zum Geräuschhaften.
Solche Programmpunkte können Momente spannender Entdeckungen sein, Augenblicke des Staunens über das, was alles Klang ist. Doch bei einer Dramaturgie, die einen ganzen Abend mit möglichst abstrakter und schwer zugänglicher Musik bestreitet, sind auch sehr geübte Ohren irgendwann einfach überlastet. Da drohte das Haus der Festspiele zeitweilig zu einem Matratzenlager der Kopfmusik zu werden. Und es nützte auch wenig, wenn zwischendrin in der ebenfalls bespielten Kassenhalle die energiegeladene Lustmusikerin Angel Bat Dawid aus Chicago mit der Band The Brotherhood eine Musik macht, die wie eine warme, soulige Umarmung unter Freunden klingt – eine Musik, bei der Perfektion nur eine kleine, aber Gemeinschaftlichkeit eine ganz große Rolle spielt.
Joachim Kühn | Bildquelle: Act Wie erholsam war es am nächsten Abend, als die Pianistin Eve Risser eine halbe Stunde lang auf einem raffiniert präparierten Standklavier Rhythmuspatterns und simple Harmonien über dem Ton D zu einem Klangerlebnis von trancehaft einfacher Schönheit machte: Sie saß da, spielte augenscheinlich Solo-Klavier, und man hörte zugleich ein weites Spektrum unterschiedlicher Percussion-Klänge. Wie herrlich, den sinnlichen Trompetenton von Ambrose Akinmusire zu hören – und die Stimme des Sängers und Rappers Kokayi in dem Programm "Origami Harvest", das moderne afroamerikanische Musik auf spätromantische, handwerklich gut gesetzte Streichquartettklänge treffen ließ. Und was für ein Genuss, das Solistenquartett Joachim Kühn, Klavier, Michel Portal, Bassklarinette und Sopransaxophon, Francois Moutin, Bass, und Joey Baron, Schlagzeug, quirlige Tänze der Töne über den magisch einfachen Themen der modernen Jazz-Ikone Ornette Coleman vollführen zu erleben! Da floss eine unbändige Energie zwischen diesen Musikern hin und her – und die hr-Bigband unter der Leitung von Jim McNeely tat alles, um ihnen Paroli zu bieten – was nicht leicht war, da die Klangsprache in der Musik Ornette Colemans nicht wirklich zu herkömmlicher Bigband-Ästhetik passt.
Auch die feinfühlige, frei improvisierte Musik des in Berlin geehrten Albert-Mangelsdorff-Preisträgers Paul Lovens (Schlagzeug) zusammen mit dem Gitarristen Flo Stoffner gehörte zu den wenigen sehr sinnlichen Momenten dieses Festivals: Denn die beiden Musiker spielten Töne mit so viel Luft und so viel Gespür für Form, dass Musik zum Lauschen daraus wurde. Ganz anders, aber ebenfalls ein Lichtblick war die hymnisch-schöne Musik der finnischen Sängerin und Zither-Spielerin Sinikka Langeland mit so hochkarätigen Begleitern wie Bassist Mats Eilertsen und Saxophonist Trygve Seim im Anbau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. "Sauna Cathedral" hieß das Motto dieses Konzerts – und die einfachen Songs stellten eine schlüssige Verbindung zwischen dem sakralen Raum und der naturverbundenen Spiritualität Finnlands und Norwegens her, zu der auch das Ritual der Sauna gehört.
Marc Ribot | Bildquelle: Ralf Dombrowski Diese Momente blieben rar, zumindest auf der Hauptbühne des Festivals. Das wurde erst im allerletzten Konzert im Haus der Festspiele wieder etwas aufgewogen durch die gewitternd intensive Quartettmusik des amerikanischen Gitarristen Marc Ribot mit Saxophonist Jay Rodriguez, Nick Dunston, Kontrabass und Chad Taylor, Schlagzeug, bei der hymnische Themen und vertrackt aufbrausende Improvisationen einen Power-Abschluss des Festivals boten. Der war noch dazu verschränkt mit einem politischen Statement, da Ribot mit seiner schneidenden Gesangsstimme auch einige seiner "Songs of Resistance" in den Raum schickte – wie etwa "We are Soldiers in the Army" mit den Zeilen "We got to hold that blood-stained banner / We got to hold it up until we die". Davor hatte der Saxophonist Anthony Braxton mit seiner "Zim Music" in einer hochkarätigen Septettbesetzung unter anderem mit der Saxophonistin Ingrid Laubrock und mit Instrumenten wie Harfen, Tuba und Akkordeon den Kreis zu seinem Auftakt mit "Sonic Genome" geschlossen; er selbst spielte hier gleich vier Instrumente: Sopranino-, Sopran-, Alt- und Basssaxophon, verblüffte gerade auf dem Altsax mit einer immer noch enormen Spieltechnik – und ließ mit dem Ensemble eine komplexe Kammermusik entstehen, die höchst rasant begann und sich dann auch in reizvolle Studien der Langsamkeit versenkte. Das Berliner KIM Collective mit Musikern wie dem Schlagzeuger Max Andrzejewski hatte zwischenzeitlich auch ihr Projekt "The Mass of Hyphae – a Collective Fungus Opera" aufgeführt – mit Bildprojektionen, Geräuschcollagen, musikalischen Momenten von der elektronischen Geräuschmusik bis zum A-cappella-Gesang, mündend im feierlichen Wachsen eines riesigen weißen Pilzes auf der Bühne. Als kreatives Pilzgewächs in der Berliner Kulturlandschaft versteht sich diese Initiative, und mit einer Installation im Foyer sowie dieser Aufführung war sie ins Jazzfest 2019 integriert.
Viele spannende Ansätze also, aber auch viele Versäumnisse. Das Jazzfest 2019 bot nur einen kleinen Ausschnitt aus der immensen Vielfarbigkeit des aktuellen internationalen Jazz. Die Konzentration auf sehr abstrakte Töne zwischen Komposition und Improvisation brachte eine Kontrastarmut mit sich wie in kaum einem Jahrgang in der 56-jährigen Geschichte des Berliner Jazzfestivals. In der Präsentation hätte es geholfen, wenn man in den Ansagen ab und zu ein paar substantielle Sätze über die Musik gehört hätte. Was nützt es dem Publikum hingegen zu erfahren, dass die Begegnung mit einem Musiker wie Anthony Braxton für die Künstlerische Leiterin ein besonders emotionales Erlebnis war? Viele kleine Gesprächs-Podien vor und zwischen den Konzerten – zusätzlich zur unablässigen Beschallung des Publikums auch in den Pausen – können dafür kein Ersatz sein. Außerdem ist es sehr verwunderlich, wenn ein gesellschaftlich so virulentes Thema wie "30 Jahre Mauerfall" ausgerechnet beim Jazzfest Berlin überhaupt nicht vorkommt – bei einem Festival, das einst gegründet wurde, um die Mauer kulturell zu überwinden und für West-Berlin eine Brücke zum Rest der Welt zu bauen.
War unverständlicherweise nicht dabei: Rolf Kühn | Bildquelle: Paul Zinken-dpa Ein Brüderpaar, das die deutsch-deutsche Geschichte so spiegelt wie kein anderes im Jazz, ist zurzeit nicht nur in der Fachwelt besonders im Gespräch: der Klarinettist Rolf Kühn und der Pianist Joachim Kühn. Der große Dokumentarfilm über die beiden, "Brüder Kühn. Zwei Musiker spielen sich frei" von Stephan Lamby war zwar ins Festivalprogramm integriert, aber auf der Bühne tauchte nur einer von beiden auf, der Pianist Joachim Kühn. Völlig unverständlich, warum der dieses Jahr neunzig gewordene Rolf Kühn, der musikalisch immer noch ungebrochen aktiv ist und mit sehr viel jüngeren Musikern eine Musik ganz am Puls der Zeit macht, nicht ebenfalls einen Platz im Programm hatte: Denn er ist einer der bedeutendsten Jazzmusiker Deutschlands, lebt seit langem in Berlin und spielt in der Musikgeschichte dieser Stadt eine sehr bedeutende Rolle. Es gab schon einmal künstlerische Leiter des Jazzfests Berlin, die eine Sensibiltät für solche Themen hatten.