Am 24. Januar 1975 gab Keith Jarrett sein legendäres "Köln Concert". Die magische Mischung aus meditativen und ekstatischen Klangzuständen dieser abendfüllenden Performance des damals 29 Jahre jungen Keith Jarrett sind unserem Autor Michael Schmidt noch heute detailliert in Erinnerung. Für BR-KLASSIK schildert er seine Eindrücke dieses eindrücklichen und unvergesslichen Abends.
Bildquelle: ECM
So etwas hatte ich noch nie vorher gehört und gesehen: Ein ständiges Stöhnen und Wimmern begleitete das Spiel dieses ekstatischen Pianisten. Dabei kroch er geradezu in die Tasten, während seine Füße wahre Tänze auf den Pedalen veranstalteten. Zeitweise spielte er sogar im Stehen, bewegte seinen ganzen Körper in reptilienartigen Windungen und Verrenkungen, die eine eigentümliche Mischung aus Selbstvergessenheit und Verzückung ausstrahlten. Stilistisch bewegte sich seine Musik grenzüberschreitend zwischen Jazz und Klassik, minimalistischen Geweben aus Wiederholungen und kleinen Veränderungen, markanten Rhythmen und romantischer Melancholie, schwebender Ruhe und harmonischen Kühnheiten. Der Auftritt von Keith Jarrett vor 45 Jahren in der Kölner Oper versetzte mich in einen Dauerrausch entzückten Staunens. Zu verdanken habe ich dieses legendäre Konzerterlebnis meinem damaligen Klavierlehrer am Kölner Konservatorium, der mich dorthin mitnahm, weil ich mich außer für Bach und Beethoven auch für Jazz und Pop interessierte.
Der Auftritt von Keith Jarrett vor 45 Jahren in der Kölner Oper versetzte mich in einen Dauerrausch entzückten Staunens.
Bildquelle: ECM Keith Jarretts abendfüllende Köln-Performance begann mäßig bewegt mit gravitätisch zwischen Dur und Moll wechselnden Akkorden. Darauf folgte ein polyphones, durch Haupt- und Nebenstimmen wanderndes Geflecht, das schließlich in ein einfaches und zugleich obsessiv wiederholtes, pendelndes Terzen- und Sextenmotiv mündete, pendelnd zwischen G-Dur und a-Moll. Im weiteren Verlauf dieses ausgedehnten Klaviermysteriums entfalteten sich vor den Ohren der größtenteils hingerissenen Zuhörerinnen und Zuhörer in der Kölner Oper Motive von hymnischer Innigkeit, Ausbrüche von dramatischer Wildheit und impressionistisch schwebende Klangmalereien zu einem großen zusammenhängenden Organismus. Weil Jarretts schwelgerische Musik über weite Strecken auf einfachen Mustern und reinen Dreiklängen basierte und das Publikum mit ihrer meditativen Wohlklangsfülle eher umschmeichelte als herausforderte, empfanden einige sie allerdings auch als kitschig.
Für mich selber wurde das Köln-Concert zu einem der prägendsten Konzerterlebnisse meiner Schulzeit. Die himmlische Länge seiner aus nur zwei großen Teilen bestehenden Solo-Improvisation, die sich aus dem einfachen Pendeln zwischen zwei Dur- und Mollakkorden entfaltete, die magische Mischung aus meditativen und ekstatischen Klangzuständen – das war für mich in höchstem Maße überraschend und inspirierend, ja es veränderte mein Verständnis von Musik und Zeit grundlegend.
BR-KLASSIK-Autor Michael Schmidt | Bildquelle: BR / Ralf Wilschewski Die Kölner Improvisationen des 29 Jahre jungen Keith Jarrett glichen einem musikalischen Bewusstseinsstrom, in dem jedes Zeitgefühl verloren ging, aus dem sich in einer Art Gleichzeitigkeit immer wieder neue komplexe Strukturen formten. Der Klavierflüsterer wurde zum Medium, er wurde selber Musik.
Als damals 17-Jährigen, der auch selber am Klavier improvisierte, prägten bis zu dieser Erfahrung Musiker wie Oscar Peterson, Herbie Hancock oder Miles Davis meinen Jazzhorizont. Nach dem Keith-Jarrett-Erlebnis bewegte ich mich in stilistisch wie mental deutlich freieren Bahnen. Und vielleicht beeinflusste diese Initiation für das musikalisch Grenzüberschreitende, ja Ekstatische auch mein Studium bis hin zur Promotion, die mich in die Welt des alle Kunstgrenzen überschreitenden Komponisten Alexander Skrjabin führte.
Nach diesem Erlebnis bewegte ich mich in stilistisch wie mental deutlich freieren Bahnen.