"In den finsteren Zeiten, wird da auch gesungen werden?" fragt Bertolt Brecht in einem berühmten Gedicht und gibt gleich die Antwort mit: "Da wird auch gesungen werden, von den finsteren Zeiten". Mein Kollege Thorsten Preuß findet das eine tröstliche Vorstellung gerade in den heutigen Krisen und stellt nun ein Album vor, das Brechts Aussage aufs Schönste illustriert.
Bildquelle: Prospero
Ein Land am Abgrund. Die Gesellschaft tief gespalten, die Lager verfeindet, der politische Diskurs polarisert. Radikale Ideen gewinnen mehr und mehr Anhänger. Die Staatsfinanzen sind zerrüttet. Und vor der Haustür tobt der Krieg. England ist im 17. Jahrhundert in der Dauerkrise. Milizen, die einander bekämpfen. Ein religiöser Fanatiker, der an die Macht kommt. Das Parlament: immer wieder aufgelöst. Der König: enthauptet. Und schließlich auch noch die Pest. Keine gute Zeit. Schon gar nicht für die Künste.
George Jeffreys war ein brillanter Musiker. Kurzzeitig war er sogar königlicher Organist. Aber in einer Zeit, in der die Puritaner Kirchen verwüsteten, Orgeln niederbrannten und Chöre auflösten, musste Jeffreys seinen Lebensunterhalt anders bestreiten: Als Gutsverwalter und Sekretär, weitab von den blutigen Zentren der Macht, draußen in Northamptonshire. Was er aber hier, in Diensten der Familie Hatton, unter diesen Umständen geschaffen hat, quasi in seiner Freizeit, grenzt an ein kleines Wunder.
Bittersüß klingen diese geistlichen Gesänge. Mächtig dahinbrausenden Akkorde werden unterbrochen von schmerzhaft verdrehten Dissonanzen. Liebliche Terzen zum Dahinschmelzen münden plötzlich in harmonische Rückungen, die einem Schauder des Entsetzens über den Rücken jagen. Keine Frage: Jeffreys hat sich bei diesen vier- oder fünfstimmigen Anthems manches von den Italienern abgeschaut, die effektvolle Chromatik, die herzzerreißenden Tonreibungen. Aber er fügt den biblischen Texten und andächtigen Dichtungen eine persönliche Note hinzu: So komponiert einer, der Not und Leid nicht nur aus Büchern kennt.
Trotzdem: Die Musik von George Jeffreys würde, verglichen mit seinen Vorbildern Monteverdi und Carissimi, weniger spektakulär wirken, wenn sie nicht von so grandiosen Interpreten gesungen würde. Das Ensemble Solomon's Knot ist ein Glücksfall für den vergessenen Komponisten. Das Markenzeichen der britischen Formation rund um den in Jordanien lebenden Bassisten Jonathan Sells: alle singen auswendig. Und das heißt: sie machen sich die Musik wirklich zu eigen, glühend, leidenschaftlich, expressiv.
Für die Aufnahme sind die zehn Musikerinnen und Musiker dorthin gegangen, wo Jeffreys einst treu seinen Dienst versah: auf das abgelegene Landgut Kirby Hall. Die große Halle des Herrenhauses ist unversehrt, von den anderen Flügeln jedoch bleiben nur Ruinen, wo der Regen in die einst prunkvollen Säle tropft. Ein Ort, der hörbar zu einem außergewöhnlich intensiven Album inspiriert hat. Und zugleich daran mahnt, dass nicht alles, was in der Krise zerbricht, auch wieder repariert werden kann.
George Jeffreys
Solomon’s Knot, Leitung: Jonathan Sells
Label: Prospero
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 21. Januar 2024, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK