Eine Brücke über das Goldene Horn: Leonardo da Vinci wollte Orient und Okzident miteinander verbinden. Die Pläne wurden nie verwirklicht, aber nun errichtet das Ensemble Constantinople Leonardos Brücke musikalisch. Mit von der Partie ist Marco Beasley, ein Altmeister des früh- und vorbarocken Gesangs.
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Was wohl Sultan Bayezid II. durch den Kopf ging, als er diesen Brief las. Geschrieben von einem der größten Gelehrten nicht nur seiner Zeit, sondern überhaupt: Leonardo da Vinci. Darin: Der gewagte Vorschlag zu einem Wunsch, den der Sultan selber geäußert haben soll, eine Brücke über das Goldene Horn, die Europa und die arabische Welt verbindet. Leonardos Vorschlag dazu war gewaltig, es wäre die größte Brücke seiner Zeit geworden, eine beeindruckende Leistung der technischen Fähigkeiten um 1500. Allein, der Sultan überging diesen Vorschlag, die Brücke wurde nie gebaut. Heute gibt es noch eine Skizze von Leonardo, die von den ganz konkreten und realen Vorstellungen des Renaissancegenies zeugt. Diese Brücke wurde jetzt symbolisch in Form von Musik errichtet, von einem Ensemble, das sich genau diese Vermittlung von Orient und Okzident auf die Fahnen geschrieben hat. Das Ensemble Constantinople aus Montréal.
Die Verbindung der zwei Kulturräume, die am Bosporus aufeinandertreffen, wird groß geschrieben, nicht ihre Trennung. Barockgitarre und Arciliuto finden sich ebenso im Ensemble Constantinople wie die persische Laute Setar und die arabisch-osmanische Zither Kanun, dazu europäische und orientalische Streichinstrumente, Flöten und Perkussion. Ein Mischklang, mit dem eine gemischte Musik aus der Zeit um 1500, der Zeit von Leonardo da Vinci, interpretiert wird. Italienische Renaissancemusik steht neben alter persischer Lyrik, gekleidet in überlieferte osmanische und arabische Stücke und Melodien, in zwei Fällen sind die Kompositionen auch modern. Kiya Tabassian, der Ensembleleiter von Constantinople, singt die persischen Lieder, für die italienischsprachigen springt niemand anders in die Bresche, als ein charismatischer Altmeister des früh- und vorbarocken Gesangs: Marco Beasley.
Unter den Stücken, die die europäische Alte Musik vertreten, sind einige sehr bekannte, wie Saltarello und Piva von Joan Ambrosio Dalza, Non val aqua al mio gran foco von Tromboncino oder das anonyme Staralla ben cussi. Für den Alte Musik-Fan ist das eigentlich Interessante, wie gerade dieses Repertoire im Gewand des sehr musikantischen und gelebten europäisch-orientalischen Ensemble-Mischklangs interpretiert wird. Die orientalischen Floskeln und Instrumentalklänge sind in der Alte Musik-Szene schon seit langem Interpretationshilfe und Einflußgröße, und klingen daher gar nicht mal so fremd. Die ungewohnte, fast popmusikalische Lebendigkeit und Unmittelbarkeit gibt aber vielleicht zumindest den entfernten Eindruck einer historischen Möglichkeit europäischen Musizierens, die sich weitgehend der Rekonstruktionsmöglichkeit entzieht – es sei denn in einem Gesamtkonzept, wie hier bei Constantinople.
Mit den persisch-osmanischen Stücken wird die Herkunft dieses Interpretationsansatzes gleich mitgeliefert, ein praktisches Experiment und nicht nur die einseitige Übertragung von theoretischen Erwägungen auf die europäische Musikgeschichte. Das Ensemble Constantinople hat mit dieser CD in gewisser Weise sein eigenes Credo zum Klingen gebracht: Orient und Okzident verbinden sich organisch zu einem einheitlichen Ganzen, das beide Seiten in einem ganz eigenständigen Klangbild miteinander verschmilzt. So wie es auch Leonardos Brücke getan hätte. Im Endeffekt ist diese Mixtur in keine Schublade zu stecken: Es ist keine Alte Musik, keine orientalische Musik, auch der Begriff Weltmusik greift zu kurz. Aber nicht verschwiegen werden soll, dass trotz aller Überlegungen rund um ein derartiges Programm, diese Musik einfach sehr gekonnt gemacht ist, mit viel Spiellust, mit viel Gefühlt, mit viel Kenner-, aber auch mit viel Könnerschaft. Wer sich darauf einlässt, den erwartet ein pures und ungetrübtes Musikvergnügen.
Ensemble Constantinople, Kiya Tabassian (Leitung)
Marco Beasley (Gesang)
Label: Glossa
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 9. Juli 2023, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK