Die Alternatimpraxis ist ein Kunstgriff, der zum einen den Text eines gesungenen Stücks deutlich verständlich werden lässt, zum anderen aber kann bei dieser Kompositionsidee auch äußerst kunstvoll gestaltet werden.
Bildquelle: Jules & Jenny
Stichwort | 03.04.2016
Alternatimpraxis
Alternatim – das ist lateinisch und heißt "abwechselnd". Der Begriff Alternatimpraxis beschreibt also die verschiedenen Fälle in der Musik, insbesondere der Kirchenmusik, in denen abwechselnd musiziert wird: z. B. abwechselnd Vorsänger und Chor, Chor und Gemeinde, verschiedene Chorgruppen, vokal und instrumental oder einstimmig und mehrstimmig.
Historisch geht diese Praxis bis in die Frühzeit des Christentums zurück. Man nimmt an, dass sie sich im Abendland bereits um das Jahr 400 herum etablierte, nach dem Vorbild des im Osten schon viel länger gebräuchlichen antiphonalen Wechselgesangs von Psalmen. Im Laufe der Zeit wandte man diese Praxis auch auf die Teile des Messordinariums an und mit der Entwicklung der Mehrstimmigkeit wurde es mehr und mehr Usus, auf einen oder zwei einstimmige Verse einen polyphonen folgen zu lassen. Ein Meister dieses Modells war beispielsweise Heinrich Isaac, um 1600, von dem mehr als 20 solcher Messkompositionen überliefert sind.
Eine wichtige Rolle in der Alternatimpraxis spielte bereits im 14. Jahrhundert auch die Orgel. Nachdem schon auf dem Konzil von Vienne 1311 und 1312 beklagt wurde, dass man in vielen polyphonen Kompositionen den Text nicht verstünde, ging man vielerorts dazu über, einen Teil der Gesänge einstimmig vom Chor singen zu lassen, wozu die Orgel mehrstimmige sogenannte Versette beitrug. So fanden sich um 1500 zumindest in Dom- und Stiftskirchen meist zwei oder drei Orgeln, die gerade auch der Alternatimpraxis dienten. Wobei es übrigens durchaus üblich war, auch einstimmige Choralmelodien auf der Orgel zu spielen - sei es im Wechsel mit mehrstimmigen Orgelstücken oder mit einem Chor.
Die Reformation übernahm nicht nur mit Freuden die gebräuchlichen Alternatim-Techniken, sondern fügte der Schar der möglichen musizierenden Gruppen noch die einstimmig singende Gemeinde zu. Die zahlreichen Motetten über einen cantus firmus, beispielsweise von Johann Walter, oder die vielen Orgelchoräle, von Samuel Scheidt bis hin zu Bach, die zwischen dem 16. und dem frühen 18. Jahrhundert entstanden, waren also Teil dieses abwechselnden Musikzierens.
Auch die venezianische Mehrchörigkeit übrigens fußt im Grunde auf dem alternatimen Singen, und nicht zuletzt sind da auch die Verse Anthems der Anglikanischen Kirche mit ihrem Wechsel zwischen Solisten und Chor - und manchmal noch Orgel oder Gambenconsort. Etwa um die Wende zum 18. Jahrhundert wurden die geistlichen Werke dann langsam zu ausgedehnt und komplex, als dass ein Wechsel mit einstimmigem Chor oder Gemeinde noch Sinn gemacht hätte, und die Komponisten verloren das Interesse an der Alternatimpraxis. Die aber in ihrer ursprünglichen Form - dem gottesdienstlichen Wechselgesang von Psalmen oder auch Ordinariumsteilen - bis heute praktiziert wird. Abwechslung seit Jahrtausenden!