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Andris Nelsons über Schostakowitschs Zehnte Der Dirigent, der Komponist und der grosse Tyrann

Schostakowitschs düstere Zehnte Symphonie aus Stalins Todesjahr 1953 ist ein bitterer Kommentar des Komponisten auf das verbrecherische System des Tyrannen. Das BR-Symphonieorchester führt das Werk am Freitag in München auf, am Pult steht Andris Nelsons. Die Noten, die vor ihm liegen, führen den lettischen Dirigenten in die eigene Vergangenheit - und die seiner Familie. Ein Gedankenprotokoll.

Dirigent Andris Nelsons | Bildquelle: dpa/Jan Woitas

Bildquelle: dpa/Jan Woitas

Die Tatsache, dass Stalin gestorben war, konnte von keinem Menschen in Russland unbemerkt bleiben. Der große Tyrann war tot. Die Leute waren auf eine seltsame Mischung von Gefühlen zurückgeworfen. Auf der einen Seite war jeder froh. Andererseits hatte Stalin in den Jahren seiner Schreckensherrschaft so viel Furcht in Russland verbreitet, dass die Leute sich ängstlich fragten, ob es wirklich gut ist, dass er nicht mehr lebt. Selbst nach seinem Tod übte er hypnotische Macht aus. Diesen Kontext kann man bei der Zehnten Symphonie von Schostakowitsch auf keinen Fall unberücksichtigt lassen.

Andriss Nelsons und Josef Stalin

Andris Nelsons stammt aus Lettland, seine Familiengeschichte wurde stark durch das sowjetische Regime beeinflusst. Heute ist Nelsons Chefdirigent beim Boston Symphony Orchestra. Mit seinem Orchester hat der Dirigent Schostakowitschs mittlere Symphonien eingespielt - unter dem Titel "Under Stalin’s Shadow".

Schostakowitsch hatte schon vor Stalins Tod eine ganz besondere psychologische Beziehung zu ihm. Die Probleme begannen mit seiner Oper "Lady Macbeth von Mzensk". Stalin hatte die Oper verdammt, Schostakowitsch als Formalist verfolgen lassen, fast sein Leben zerstört. Man kann da fast von einem persönlichen Krieg sprechen. Schostakowitsch war zutiefst verletzt, deshalb hat die Zehnte Symphonie eine sehr persönliche Aussage. Es geht um Schostakowitschs Gefühle nach Stalins Tod, verbunden mit den Gefühlen der Nation. Aber wenn man diese Musik hört, ohne etwas über den geschichtlichen Hintergrund zu wissen, ist es auch fantastische Musik! Schostakowitsch war ein genialer Komponist, deshalb kann man seine Musik auch ohne ihre zeitgebundene Bedeutung verstehen. Zugleich man kann sie auch auf die politische Gegenwart beziehen. Wenn man das heute spielt, denkt man: Mein Gott, wie viele Parallelen gibt es zu dem, was wir erleben!

Man konnte nie sagen, was man dachte
Andris Nelsons

Ich war ungefähr zwölf Jahre alt, als der Kommunismus zusammenbrach. Natürlich gab es in meiner ganzen Kindheit, in der Schule und auch bei meiner musikalischen Ausbildung immer die Angst, die lag in der Atmosphäre. Man war immer besorgt. Man konnte nie sagen, was man dachte. Man wusste nie, ob vielleicht jemand mithört und dann dem KGB berichtet. Die Agenten des Geheimdienstes hatten alle Institutionen durchdrungen. Meine Mutter unterrichtete damals am Konservatorium, auch dort arbeiteten Lehrer, die KGB-Agenten waren. Heute denkt man, das kann doch nicht wahr sein. Aber das ist wirklich so passiert. Wir waren eine christliche Familie und gingen zur Kirche - aber staatliche Angestellte durften sich eigentlich in einer Kirche nicht blicken lassen. Meine Mutter wurde dann zum Direktor zitiert, fast wäre sie ins Gefängnis gekommen. "Wie können Sie eine Lehrerin sein und die Idee des Kommunismus repräsentieren?", fragte man sie.

Diese tiefen und interessanten Gespräche waren sehr gefährlich
Andris Nelsons

Ich erinnere mich, wie wir auch zu Hause manchmal das Gefühl hatten, nicht offen sprechen zu können. Auf der anderen Seite hatten mein Stiefvater und meine Mutter viele Freunde aus Künstler- und Intellektuellen-Kreisen. Fast jeden Abend traf man sich zum Tee: Philosophen, Priester, Angehörige unterschiedlicher Religionen. Da gab es sehr intellektuelle Gespräche. Ich saß als kleines Kind dabei und hörte all diesen Gesprächen zu. Natürlich habe ich mich nicht daran beteiligt, aber ich erinnere mich ganz genau, wie ich das alles aufgesogen habe. Und natürlich waren diese tiefen und interessanten Gespräche sehr gefährlich. Kein Außenstehender durfte wissen, was da gesprochen wurde. In den letzten Jahren der Sowjetunion wurde es besser. Aber sicher war es nicht.

Ich dachte, Lenin wäre so etwas wie Jesus Christus
Andris Nelsons

Meine Mutter und meine Großmutter, die Stalins Herrschaft noch erlebt hatten, haben mir viele Geschichten erzählt. Ich wusste also viel von dem, was wirklich passiert war. Und das war wichtig, denn in der Schule erzählte man uns das Gegenteil. In der ersten Klasse dachte ich, dass Lenin so etwas wie Jesus Christus ist. Er wurde uns als Vorbild präsentiert: Wie Lenin sollte man sein. Ich war Jungpionier. Wir sind marschiert. Und das Komische ist - wirklich geglaubt habe ich dieser Ideologie nicht, denn mit meinem Verstand wusste ich, dass das alles nicht stimmt. Trotzdem hatte das natürlich alles eine Wirkung auf mich, während wir da marschierten. Die Propaganda war sehr stark. Dagegen standen dann die Gespräche in der Familie. Und ich musste mich immer fragen: Wo ist die Wahrheit?

Ich finde viele versteckte Botschaften in Schostakowitschs Musik
Andris Nelsons

Wenn ich heute die Musik von Schostakowitsch interpretiere, finde ich darin viele versteckte Botschaften. Und selbst heute glaube ich, dass man all diese Botschaften, oder besser gesagt: die verschiedenen Bedeutungsschichten nicht vollständig in Worte fassen kann. Es ist, wie wenn man etwas nicht glauben kann oder nicht weiß, was man glauben soll. Man wurde so viele Jahre von dieser Gewaltherrschaft Stalins unterdrückt, dass man begonnen hatte, an die Propaganda zu glauben, dass man sich gar nicht mehr vorstellen konnte, es könnte anders sein. Man kann das ja auf alten Archiv-Filmen sehen, wie die Leute bei Stalins Tod weinten. Die Masse der Trauernden bei seiner Beerdigung war so groß, dass Leute erschossen wurden, als sie dem Leichnam zu nahe kommen wollten und die Absperrungen überschritten. Sogar nach seinem Tod riss Stalin Menschen in den Tod, die von ihm begeistert waren. Was für eine dramatische und sarkastische Ironie! All das bewegt mich, wenn ich Schostakowitsch höre und seine Werke studiere.

Das Gespräch mit Andris Nelsons führte Bernhard Neuhoff für BR-KLASSIK.

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