20 Jahre nach dem Massaker in der Kiewer Schlucht Babij Yar prangert der Dichter Jewgenij Jewtuschenko an, dass kein Mahnmal an den Mord an über 33.000 Juden erinnert. Das Gedicht wird über Nacht zum Politikum, in der UdSSR und im Westen. Auch Dmitrij Schostakowitsch ist ergriffen von den Worten und komponiert über "Babij Yar" seine 13. Symphonie. Ein mutiger künstlerischer Akt in der Tauwetterperiode unter Nikita Chruschtschow.
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Das starke Stück zum Anhören
Schostakowitschs 13. Sinfonie - "Babij Yar"
Babij Jar. Der Name steht für Gewalt, Grausamkeit und Mord. Babij Yar heißt eine Schlucht bei Kiew. 1941 findet hier eines der größten Massaker des Zweiten Weltkriegs statt. Unter dem Kommando der SS und der deutschen Wehrmacht werden innerhalb von 36 Stunden über 33.000 Juden erschossen. Kinder, Frauen, Männer. Lange erinnert nichts an dieses Massaker. 20 Jahre lang wird es unter Stalin und Chruschtschow totgeschwiegen. Bis 1961 der Lyriker Jewgenij Jewtuschenko genau dieses Tabu mit einem Gedicht anprangert.
Es steht kein Denkmal über Babij Yar / Die steile Schlucht gemahnt als stummes Zeichen. / Die Angst wächst in mir. / So alt wie das jüdische Volk bin ich heute. / Mir ist, als wenn ich selbst ein Jude bin.
Bildquelle: © picture alliance/Russian Look/Anatoly Lomokhov Die Veröffentlichung der Verse in der "Literaturnaja gazeta" wird zum Politikum, das Gedicht in 72 Sprachen übersetzt und damit das Massaker über Nacht ins internationale Bewusstsein gerückt. Zum Missfallen der KPdSU, die den Massenmord an Kiewer Juden weiter vertuschen will. Ergriffen von diesem poetischen Mahnmal ist auch Dmitrij Schostakowitsch, der es im März 1962 mit eindrucksvollen Klängen vertont. Danach erst holt er bei Jewtuschenko die Erlaubnis dafür ein und bittet gleich noch um vier weitere Texte – es werden daraus die fünf Sätze seiner 13. Symphonie b-Moll für Orchester, Solo-Bass und Männerchor.
"Es ist wie ein Portrait, denken Sie an Mussorgskijs 'Bilder einer Ausstellung'," erklärt der amerikanische Dirigent John Axelrod. "Das Stück wurde mit einer sehr klaren Intention geschrieben, trotzdem halte ich es nicht für ein jüdisches, sondern für ein russisches Werk. Und namentlich eines für Humanität."
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Bildquelle: © Stefano Bottesi "Babij Yar" ist der Beiname der 13. Symphonie und der Titel des ersten Satzes: ein Adagio, gut 16 Minuten lang. Ein Satz voll emotionaler Wucht und Anklage, voller Erschütterung, der John Axelrod weder als Musiker noch als Mensch kalt lässt. Zum einen ist da das Gedenken an das Verbrechen an Juden, zum anderen ist es der Ausdruck einer allgemein menschlichen Katastrophe: "In der Musik stecken natürlich Referenzen an jüdische Komponisten und jüdische Musik, aber man kann auch Wagner heraushören. Man findet all diese Verweise, aber es war Schostakowitsch, der hier sein eigenes persönliches Statement abgegeben hat, über die Tragödie des Faschismus, des Stalinismus, die Tragödie vom Verlust des Lebens und dem Willen zu Überleben. Das Licht, das die Dunkelheit überwindet."
Auch die übrigen vier Sätze und Gedichte der 1962 uraufgeführten Symphonie sind auf jeweils eigene Art ein Abbild sowjetischer Realität, klingende Dokumente des Lebens und Überlebens. Mit "Humor" oder freier übersetzt auch "Witz" ist der 2. Satz überschrieben, ein Scherzo voller beißender Ironie und Groteske, das an Schostakowitschs große Persiflagenkunst in Stücken wie der "Nase" oder früheren Symphonien erinnert. "Der 2. Satz erzählt sehr drastisch, wie fähig die Russen waren und immer noch sind, wenn es darum geht, über ihr Leid zu lachen," sagt John Axelrod. "Das Leiden ist ja untrennbarer Bestandteil der russischen Kultur: Lesen Sie Puschkin oder Dostojewskij, da bekommen Sie schnell eine Idee davon, wie groß die Leidensfähigkeit der Russen ist. Und lesen Sie dann Bulgakow und hören Sie Schostakowitsch, dann verstehen Sie den Humor im Angesicht der Tragödie. Da kommt, glaube ich, der Mut her – die Wahrheit zu sagen, zu lachen über das Leiden, und zu erkennen, dass die Wahrheit am Ende siegen wird."
Und dann kommt das Finale, wie ein Licht aus der Dunkelheit!
So düster, aggressiv und tragisch die ersten vier Sätze der 13. Symphonie gehalten sind, so gegensätzlich – hoffnungsfroh und fast friedlich – erklingt das Finale. Rein formal erinnert es an ein klassisches Rondo, überschrieben mit dem Titel "Karriere": "Und dann kommt das Finale, wie ein Licht aus der Dunkelheit! Wenn die Flöten kommen, und Solo-Violine und Solo-Bratsche allein sind, das ist, wie wenn Sie mit einer Kerze in der Dunkelheit laufen. Wenn Sie zu schnell laufen, geht sie aus. Wenn Sie reden, geht sie aus. Wenn ein Luftzug kommt, geht sie aus! Aber sie muss brennen. Also gehen sie auf Zehenspitzen und ganz langsam. Das ist die Atmosphäre, das ist das Gefühl, das wir erzeugen wollen", sagt John Axelrod.
Die Uraufführung am 18. Dezember 1962 wird von Partei und Kulturministerium im Vorfeld immer wieder torpediert. Doch Dirigent Kirill Kondraschin und die Musiker lassen sich nicht einschüchtern, bestehen auf einer vollständigen Darbietung der Symphonie. Vor dem Gebäude bilden sich lange Menschenschlangen, die Elite Moskaus ist vertreten, einzig die Regierungsloge bleibt leer. Der Beifall im Saal will lange nicht enden, vielen stehen Tränen in den Augen. In der "Prawda" am nächsten Tag steht über das Ereignis genau ein Satz.
Das Starke Stück am 29. Januar 2019, 19:05 Uhr auf BR-KLASSIK - mit der Aufzeichnung vom Juni 2018 aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz
Dmitri Schostakowitsch:
Symphonie Nr. 13 b-Moll für Solo-Bass, Männerchor und Orchester
Mikhail Petrenko (Bass)
Männerchor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: John Axelrod