An Beethovens Neunter Symphonie scheiden sich seit jeher die Geister. Die große Herausforderung für den Interpreten liegt darin, das Vokale mit dem Instrumentalen zu versöhnen. Und das unabhängig davon, ob Originalinstrumente zum Einsatz kommen oder ein modernes Orchester. Alle sind gleichermaßen gezwungen, sich mit den Ecken und Kanten in Beethovens Musik auseinanderzusetzen und trotzdem ein geschlossenes Ganzes zu präsentieren. Welcher Interpretationsansatz sticht besonders heraus?
Bildquelle: ©Luisa Ricciarini / Leemage
Gespräch mit dem Autor Detlef Krenge
Beethovens 9. Symphonie im Interpretationsvergleich
Das Konzert am 22. März 1942 sollte in die Interpretationsgeschichte eingehen: Wilhelm Furtwängler dirigiert die Neunte von Beethoven. Jeder Ton sitzt am richtigen Platz, die Aufnahme zementiert eine Beethoven-Auffassung, die bis heute nachwirkt. Furtwängler ging es nie um Langsamkeit und große Geste per se. Die musikalische Deutlichkeit war es, das Ausformulieren musikalischer Gedanken bis in die letzte Einzelheit. So überzeugend das künstlerisch auch ist – wird man Beethoven damit gerecht, dem sperrigen und launischen Hitzkopf, der gerne aufklärerisch-revolutionär die Kompositionsgepflogenheiten seiner Zeit gegen den Strich bürstete? Schon Toscanini demonstrierte 1939, wie zügig man die Neunte nehmen kann. So richtig wurde mit den althergebrachten vermeintlichen Gewissheiten aber erst aufgeräumt, als sich die Protagonisten der Originalklangbewegung in den 1980er und 90er Jahren der Beethoven-Zeit zuwandten.
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Beethoven - Symphony n°9 - Berlin / Furtwängler 1942
Inzwischen sind die großen Kämpfe ausgefochten, es muss nichts mehr bewiesen werden. Fast jeder Dirigent setzt sich heute mit den Erkenntnissen der Historischen Aufführungspraxis in Bereichen wie Tempo, Artikulation und Phrasierung, Klangmischungen, Orchesterstärke und -aufstellung auseinander. Mariss Jansons und Simon Rattle beispielsweise holten sich hörbar Rat bei Altmeister Nikolaus Harnoncourt.
Andere, etwa Andris Nelsons mit den Wiener Philharmonikern, haben sich zwar ein gutes Stück entfernt vom Weihrauchnebel der romantischen Verklärung, orientieren sich aber doch eher an der traditionellen Herangehensweise. Beeindruckend bei einem modernen Symphonieorchester sind nach wie vor die enormen dynamischen Möglichkeiten. Der Effekt von symphonischen Ausrufezeichen, an denen die Neunte Symphonie so reich ist, gewinnt eine geradezu physische Kraft. Die Kehrseite der Medaille bekommen die solistischen Sängerinnen und Sänger zu spüren, die im Finalsatz oftmals kaum eine Chance haben, gegen die massiven Klänge von Orchester und Chor anzukommen.
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Beethoven Symphony No 9 D minor Mariss Jansons Concertgebow Orchestra
An dieser Stelle schlägt die Stunde der Kammerorchester. Sie erfüllen die Erwartungshaltung an einen Orchesterklang mit modernen Instrumenten, klingen aber viel durchsichtiger. Insbesondere die schwierige Balance zwischen den drei ersten instrumentalen Sätzen und dem großen Chorfinale gelingt den kleineren Besetzungen problemlos. Das zeigt Paavo Järvi in seiner Referenz-Einspielung von 2008 mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen par excellence. Zehn Jahre später wird bei Adam Fischer und dem Dänischen Kammerorchester ein weiterer Trend erkennbar: Sein Ansatz klingt um Längen rauer und kommt Beethoven mit all seinen Ecken und Kanten sehr entgegen. Diese Merkmale verstärken sich noch bei den Originalklangorchestern, die mit ihrer reichen Farbpalette einen anderen Akzent setzen. Paavo Järvi dirigiert die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
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Beethoven: Symphony No. 9, 1st movement | Paavo Järvi and the Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Einen neuen Typ Dirigent verkörpert Pablo Heras-Casado, der extrem vielseitig ist und keinesfalls ein reiner Originalklangapostel. Er steht völlig über den Dingen und versucht, mit den Mitteln seiner Zeit dem alten Grundsatz der Komponistentreue möglichst nahe zu kommen. Dafür greift er im Falle von Beethoven mit dem Freiburger Barockorchester eben auf ein Originalklangensemble zurück. Diese Freiheit bei gleichzeitiger Kompromisslosigkeit in der Sache ist ein Schlüsselelement seiner Interpretation.
Der Alte-Musik-Star Giovanni Antonini hat sich dagegen für eine Mischform entschieden. Die Streicher des Kammerorchester Basel spielen mit historischen Bögen auf blanken Darmsaiten, Blechbläser und Pauken sind Originalinstrumente, die Holzbläser modern. Antonini kreiert auf diese Weise eine umwerfend himmelsstürmischen Neunte, die vielleicht dem Geist von Beethoven am nächsten kommt.
Das Fazit: Im Jubiläumsjahr 2020 ist die Bandbreite an hochwertigen Einspielungen der Neunten Symphonie von Beethoven so groß wie noch nie – und gerade darin liegt der eigentliche Gewinn für den Musikfan.
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Beethoven: Symphony No. 9 in D minor, Op. 125 / Kammerorchester Basel / Giovanni Antonini
Sendung: "Interpretationen im Vergleich" am 15. Dezember 2020 um 20:05 Uhr auf BR-KLASSIK