Toronto, 8. September 1982: Glenn Gould vollendet seine letzte Schall-plattenaufnahme. Dafür tauscht er das Klavier mit dem Dirgentenpult – und outet sich als Wagner-Fan.
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Er ist ein schrulliges Genie, berühmt für seine Marotten. Für Schal und Wintermantel, die er auch im Hochsommer trägt. Für den Klavierhocker mit den abgesägten Beinen, auf den er sich beim Spielen kauert. Und dafür, dass er bei seinen Aufnahmen regelmäßig mitsummt. Vor allem aber ist Glenn Gould ein begnadeter Bach-Interpret.
Doch nun, mit knapp 50, hat der Ausnahme-Pianist das Gefühl, auf dem Klavier alles Wesentliche gesagt zu haben, und will eine neue Karriere starten: als Dirigent. Als erstes vorgenommen hat er sich Wagners Siegfried-Idyll. Es sei so lyrisch wie ein Nocturne von Chopin. Alle dramatischen Steigerungen kommen vom Kontrapunkt her, nie mittels perkussiver Effekte. Es gäbe nicht mal Pauken im Orchester, schwärmt Glenn Gould. Schon früher hat er sich als "hoffnungslos Wagner-süchtig" bezeichnet und für Aufsehen gesorgt, als er auf einer Zugfahrt durch Nürnberg lauthals die "Meistersinger" anstimmte.
Viele von Wagners Werken, darunter auch das "Siegfried-Idyll", hat er entweder ganz offiziell für Klavier transkribiert oder auch einfach nur so zum Spaß für sich zuhause gespielt, ganz pragmatisch einfach durch das Weglassen mal der einen, mal der anderen Stimme und das Hinzufügen einer Gesangsstimme im Sing-along-with-Mitch-Stil. ("Sing along with Mitch" war eine populäre amerikanische Fernsehsendung, bei der die Zuschauer wie beim Karaoke zum Mitsingen animiert werden sollten.)
Für sein Dirigier-Debütalbum hat er 13 Musiker verpflichtet, die meisten sind Mitglieder des Toronto Symphony Orchestra. Vier Tage braucht er, um mit ihnen das gut zwanzigminütige Siegfried-Idyll in der Originalfassung aufzunehmen. Vier Tage, geprägt von Liebe zum Detail, Perfektionismus, Kontrollzwang. Die New York Times wird schreiben: "Die Aufführung ist phänomenal langsam. Die Präzision des Ensembles, der Dynamik, das ausgeklügelte Rubato sind durchweg übermenschlich. Kein Dirigent – weder Toscanini noch Karajan noch Celibidache – hat auf Schallplatte jemals so sehr den Eindruck hervorgerufen, das Ensemble bestehe aus Marionetten-Musikern."
Bereits in den 50er-Jahren versuchte sich Glenn Gould am Pult und dirigierte 1957 beim Chrysler Festival Gustav Mahlers "Auferstehungssymphonie". Das Dirigieren soll der exzentrische Pianist dann aber wieder rasch aufgegeben haben, um seine Arme und Hände für das Klavierspielen zu schonen.
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Glenn Gould - Mahler, Symphony No. 2 "Resurrection": IV Urlicht. "O Röschen rot!" (OFFICIAL)
Nun hat Glenn Gould aber wieder Geschmack am Dirigieren gefunden. Als nächstes will er Beethovens "Coriolan" aufnehmen, dann dessen zweites Klavierkonzert: und zwar einmal als Pianist, einmal als Dirigent. Danach sollen beide Teile im Studio zusammengemischt werden.
Das sind die glücklichsten Tage meines Lebens.
Doch vier Wochen später nimmt ihm der Tod den Taktstock aus der Hand. Glenn Goulds erste Aufnahme als Dirigent ist auch seine letzte. Seine letzte Platte überhaupt. Sein Vermächtnis.
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