Helsingfors, 26. April1899. Das Orchester der Philharmonischen Gesellschaft hebt unter der Leitung des Komponisten die Erste Symphonie von Jean Sibelius aus der Taufe. Eine neue Stimme aus dem Norden meldet sich da zu Wort. Natürlich, die Nähe zur russischen Nationalromantik, zu Tschaikowsky oder Borodin, ist nicht zu überhören. Doch ebenso wenig der Wunsch, sich von diesen russischen Komponisten abzusetzen. Finnland steht unter der Herrschaft des Zaren – für jeden patriotisch gesinnten Finnen eine Schmach.
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Zwar ließ sich Sibelius in seiner ersten Symphonie – anders als in der nur wenig früher entstandenen "Kullervo"-Symphonie oder in der "Lemminkainen-Suite" – allenfalls indirekt von der "Kalevala" beeinflussen, jenen jahrhundertealten, vom Volksmund überlieferten Runengesängen, die 1835 veröffentlicht wurden und rasch so etwas wie ein finnisches Nationalepos wurden. Und doch, die einsam klagende, nur von der Pauke grundierte Klarinettenmelodie zu Beginn der Ersten scheint wie ein altes karelisches Lied weit aus der Vergangenheit herüber zu klingen. Als der nationale Geist, aus dem die Symphonie erwachse, als eine Stimme, die das nun folgende symphonische Epos erzähle, wurde diese Melodie gedeutet. Tatsächlich ist sie die thematische Urzelle von Sibelius' Erster Symphonie. Aus ihr leitet er diverse Motive ab, und am Beginn des Finales kehrt sie zurück, nun allerdings zu glühendem Streicherpathos gesteigert.
An nationalem Pathos mangelt es dem Werk ohnehin nicht. Spätestens im Finale mit den monumentalen Orgelpunkten, mit großem Choral in den Bläsern und triumphaler Apotheose glaubt man zu wissen, woran man ist. Doch Vorsicht, in den letzten Takten scheint das alles plötzlich wegzusacken: Pizzicato, Pianissimo, e-Moll, Schluss. So endet ein bemerkenswert eigenständiger Erstling, der einen großen Symphoniker ankündigt.
Der englische Musikkritiker Ernest Newman hörte das schon 1905: "Nie habe ich eine Musik gehört, die mich so vollständig von unserem gewöhnlichen westlichen Leben fortgetragen und in eine neue Zivilisation hineingeführt hat. Jede Seite der Ersten Symphonie atmet eine andere Form des Denkens, eine andere Art zu leben, ja sogar eine andere Landschaft und eine andere Seele, als die unseren."
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Jean Sibelius - Symphony No 1 in E minor, Op 39 - Järvi
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