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Sergej Prokofjew: "Krieg und Frieden" Am Puls der Zeit

Gigantisch, monumental, monströs – Sergej Prokofjews Oper "Krieg und Frieden" ist ein Werk, das mit seiner musikalischen Wucht und szenischen Vielfalt schockiert und befremdet, aber gleichzeitig beeindruckt und fasziniert, mit einem Wort: überwältigt. Diese Oper macht in der Tat sprachlos - und sie ist ist ein typisches Produkt ihrer Zeit.

Unterschrift von Sergej Prokofjew auf der Partitur zu "Krieg und Frieden" | Bildquelle: imago/Leemage

Bildquelle: imago/Leemage

Eine Zeit der Krisen

Das Werk datiert aus der Ära der Dreißiger und Vierziger Jahre, einer Phase in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, für die außermusikalische Faktoren von kaum zu unterschätzender Bedeutung waren – vor allem die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen: zuerst die Folgen der Weltwirtschaftskrise, dann die Etablierung totalitärer Systeme – der Stalinismus in der Sowjetunion, der Nationalsozialismus in Deutschland, der Faschismus in Italien und Spanien – und schließlich der Zweite Weltkrieg.

Im Schatten musikalischer Neuerungen

Vor dem Hintergrund dieser existentiellen Nöte und Bedrohungen war keine Zeit für musikalische Avantgarde im alten Sinn: Musikgeschichtlich sind die Dreißiger und Vierziger Jahre eine Phase, die im Schatten epochaler musikalischer Neuerungen steht; zuvor: die Zwanziger Jahre mit der Entwicklung der Zwölftonmusik und der Neoklassik, danach: die Fünfziger Jahre mit der Entwicklung der seriellen und elektronischen Musik. Dazwischen: eine Phase der Besinnung und Konsolidierung. Im Blick auf den Fortschrittsdrang kommt es gewissermaßen zu einer Zurücknahme des Tempos der Kompositionsgeschichte, bewirkt durch einen – wie der Musikforscher Rudolf Stephan formulierte – "Knick in der Entwicklung" zahlreicher Komponisten. Hindemith, Martinů und Milhaud gehören zu ihnen genauso wie Strawinsky, Bartók, Schostakowitsch und eben Prokofjew.

 Musik wie "aus Eisen und Stahl"

Wie seine Kollegen hatte sich Sergej Prokofjew noch während der "Roaring Twenties" in der Rolle des "musikalischen Bürgerschrecks" und rigiden Avantgardisten gefallen – als ein "eiskalter Futurist", der mit seinem 1924 in Paris entstandenem Ballett "Le Pas d’Acier" ausdrücklich eine Musik wie "aus Eisen und Stahl" komponieren wollte und mit seiner drei Jahre später ebenda vollendeten Dritten Symphonie den jungen Swjatoslaw Richter so schockierte, dass der nur fassungslos konstatieren konnte: "Sie wirkte auf mich wie ein Weltuntergang."

Streben nach Fasslichkeit und Verständlichkeit

Sergej Prokofjew | Bildquelle: Friedbert Streller: "Sergej Prokofjew und seine Zeit", Laaber 2003 Bildquelle: Friedbert Streller: "Sergej Prokofjew und seine Zeit", Laaber 2003 Die Vorliebe von Prokofjew und seinen Zeitgenossen für die "Schock-Ästhetik" war indes auf die Zwanziger Jahre beschränkt. Im Laufe der Dreißiger Jahre strebten sie nach Fasslichkeit und Verständlichkeit des musikalischen Ausdrucks. Um 1940 war ihr rauer, kantiger, herb abweisender Stil einer sprechenden Expressivität gewichen, die den Hörer gewinnen wollte. Dabei kamen eigentlich längst überholte Gattungen zu einer neuen Hochblüte: die große Ausstattungsoper in Gestalt der so genannten "Zeit- oder Bekenntnisoper" (anstelle der Kammeropern der Zwanziger Jahre), das groß angelegte, symphonisch disponierte Solokonzert (anstelle der kammerorchestralen Konzeptionen im neobarocken oder neoklassizistischen Stil) und die groß besetzte "Weltanschauungssymphonie" (anstelle der geistvoll-spielerischen quasi Sinfonietta, der beispielsweise Prokofjew mit seiner "Symphonie classique" gehuldigt hatte). Mit anderen Worten: Die coole Neoklassik der Zwanziger Jahre verwandelte sich in den Dreißiger und Vierziger Jahren in eine glühende Neoromantik. Die Merkmale: Melodik und Rhythmik beziehen folkloristische Elemente ein, die Harmonik mildert dissonante Schärfen, der Tonsatz verzichtet auf eine komplex entfaltete Polyphonie und beschränkt sich vielfach auf wenige klar voneinander geschiedene Funktionen – oft zeigt das Notenbild eine übersichtliche Trennung in "Melodie" und "Begleitung".

Die Oper im Vordergrund

Die neuen Stilmittel der Dreißiger und Vierziger Jahre waren international: Sie lassen sich in der Musik des Amerikaners Aaron Copland und des Tschechen Bohuslav Martinů genauso finden wie in den Werken der Russen Dmitri Schostakowitsch und Sergej Prokofjew. Der Unterschied: Die dahinterstehende Ästhetik wird im Westen und Osten verschieden bezeichnet. In der westlichen Hemisphäre heißt sie "Populismus", in der östlichen Hemisphäre nennt man sie "Sozialistischer Realismus".

National in der Form, sozialistisch im Inhalt

Als Prokofjew 1936 endgültig aus dem Westen in die Sowjetunion zurückkehrte, waren die Richtlinien des Sozialistischen Realismus formuliert. In Anlehnung an Stalins Kernformel "national in der Form, sozialistisch im Inhalt" hatte der Kritiker Viktor Gorodinksy zentrale Prinzipien für das Komponieren vorgegeben: Die Verständlichkeit der Musik sollte dabei einerseits durch ein von der Folklore abgeleitetes Ideal von Einfachheit und Volkstümlichkeit gewährleistet werden, andererseits durch die Rückorientierung an die Romantik von Glinka und Tschaikowsky sowie am Realismus von Mussorgsky. Das für den "Sozialismus Partei Ergreifende" aber sollte durch die Wahl patriotischer oder revolutionärer Sujets aus Geschichte und Gegenwart eingelöst werden.

Lied und Oper bevorzugt

Die strengen Hüter der sozialistischen Musikkultur favorisierten also wortgebundene Gattungen wie Lied, Kantate, Oratorium und Oper. Wohl mehr als die beiden anderen Galionsfiguren der sowjetischen Musikkultur – Dmitri Schostakowitsch und Aram Chatschaturjan – kam Sergej Prokofjew dieser Favorisierung entgegen – mit den Opern "Semjon Kotko" (nach der Erzählung "Ich bin ein Sohn des werktätigen Volkes") und "Geschichte vom wahren Menschen" (über einen Heroen des "Vaterländischen Krieges") und am prominentesten mit der Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution (nach Texten von Marx, Lenin und Stalin) und vor allem der Tolstoi-Oper "Krieg und Frieden", in der Napoleons Russland-Feldzug zur Metapher für Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion wird.

Schrecken und Visionen

"Krieg und Frieden" Roman Tolstoi | Bildquelle: wikimedia Bildquelle: wikimedia Als Prokofjew im Winter 1941 mit der Komposition der Oper begann, stand die deutsche Wehrmacht vor Moskau. Als er sie 1943 vollendete, waren die Deutschen in Stalingrad vernichtend geschlagen. Prokofjews Monumentaloper "Krieg und Frieden" ist die Oper zum "Großen Vaterländischen Krieg" und dabei das musiktheatralische Pendant zu Schostakowitschs bombastischen "Kriegssymphonien" Nr. 7 und Nr. 8, genannt "Leningrader" und "Stalingrader". Musik, geboren aus ihrer Zeit – erschüttert vom Schrecken, Leid und Elend des Krieges und doch erfüllt von einer schöpferischen Kraft, die visionär den Blick auf eine friedliche Zukunft öffnet.

Sendung: PausenZeichen zur Live-Übertragung aus dem Staatstheater Nürnberg am 30. September 2018, ab 17:30 Uhr auf BR-KLASSIK. 

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