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George Enescu Violinsonate Nr. 3

George Enescu bezeichnete sich selbst als einen Künstler mit fünf Gesichtern. Er war Komponist, Geiger, Dirigent, Pianist und Pädagoge. Heute zählt er zu den wichtigsten Geigern des 20. Jahrhunderts und prägte als Lehrer Persönlichkeiten wie Yehudi Menuhin und Ida Haendel. Seine Tätigkeit als Komponist allerdings ist immer etwas im Schatten seiner Geigerkarriere geblieben. Seine Violinsonate Nr. 3 aber hat es ins Standard-Repertoire für die Violine geschafft. Andrea Lauber stellt dieses Werk zusammen mit Ida Haendel vor, die das Glück hatte, diese Sonate dem Komponisten selbst vorzuspielen.

Bildquelle: PR

Das starke Stück zum Anhören

Enescu - Violinsonate Nr. 3

"Mein Elternhaus konnte man nur mit Mühe zwischen einem Akazienwäldchen und dichten Haselnusssträuchern entdecken", erinnert sich George Enescu an seine Heimat im Nordosten Rumäniens. "Es war einstöckig, hatte ein Dach aus alten Holzziegeln und weißgekalkte Mauern. Der Front entlang lief eine schmale, blau angestrichene Galerie, wo ungezählte Zwiebeln zum Trocknen aufgehängt wurden. "Ich bin der Erde verwurzelt, auf einem Boden voller Sagen und Legenden geboren. In meiner Heimat gab es ein kleines Gasthaus, wo immer ein bestimmter Zigeunergeiger spielte. Es war das erste Mal, dass ich einen Fiedler Vögel, Ächzen, alle natürlichen Geräusche mit derartiger Hingabe imitieren hörte." Dieser Zigeuner-Geiger wurde zum ersten großen Vorbild des vierjährigen Jungen. Auf seiner Viertel-Geige versuchte er die Volkslieder nach Gehör nachzuspielen. Diese Rhythmen und Melodien begleiten ihn sein Leben lang.

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Haus des Lichts

40 Jahre später – Paris, 1926: Enescu ist mittlerweile ein gefragter Musiker. Sein Lebensmittelpunkt ist die französische "Capitale". In den Sommermonaten kehrt er aber regelmäßig nach Rumänien zurück, in sein Landhaus mit dem Namen "Luminisch" – "Haus des Lichts". Dort kann er sich ungestört dem Komponieren widmen, während die Geige im Kasten bleibt. "Ich geizte mit jeder Minute, die ich meiner Geige widmen musste", resümiert der Komponist. "Das Selbst-schöpferisch-Sein bedeutete mir weit mehr als ein Instrument, das mich für mein beharrliches Üben nicht eben reichlich belohnte. Oft habe ich die Geige in ihrem Kasten angeschaut und mir gesagt: 'Du bist zu klein mein Freund, viel zu klein!'"

Ich geizte mit jeder Minute, die ich meiner Geige widmen musste.
George Enescu

Der Charakter der Volksmusik

Rumänische Volksmusikanten. Ausschnitt aus einem Grabkreuz. Sapanta (Maramures, Rumaenien) | Bildquelle: picture-alliance/akg Rumänische Volksmusikanten. Ausschnitt aus einem Grabkreuz. Sapanta (Maramures, Rumänien) | Bildquelle: picture-alliance/akg Inspiriert von der Landschaft und eingetaucht in die Klänge seiner Heimat schrieb Enescu in "Luminisch" die ersten Skizzen einer Musik, die sich zu seiner Dritten Sonate für Violine und Klavier entwickeln sollte. "Ich arbeite momentan an einer Caprice für Violine und Orchester, in welcher ich die Entsprechung zu einem Dialog zwischen einem Zigeunergeiger und seiner ihn begleitenden Gruppe schaffe", äußert sich der Komponist während des Schaffensprozesses. "Ich schreibe das im Charakter der Volksmusik. Ich sage bewusst nicht 'im Stil', denn das impliziert etwas Gemachtes oder Künstliches, wogegen 'Charakter' etwas Gegebenes meint, was von Anfang an da ist."

Meisterwerk präzisester musikalischer Notation

Aus der anfänglich vorgesehenen Orchesterbegleitung wurde schließlich ein Klavierpart. Dem Werk, seiner Sonate Nr. 3 in a-Moll, gab Enescu den Untertitel "dans le caractère populaire roumain". In all seinen Werken, besonders aber in dieser Sonate, manifestiert sich der Charakter Enescus: Sie verbindet das Ungestüme mit dem Akkuraten, das Poetische mit dem Virtuosen und das Kosmopolitische mit dem Volkstümlichen. Der Solopart wirkt oft improvisiert, dabei ist gerade er ein Meisterwerk präzisester musikalischer Notation: Die typische Ornamentik rumänischer Volksmusik ist genau in kleinsten Notenwerten ausgeschrieben, die unnachahmliche Intonation in Viertelton-Notation übersetzt. Ein umfangreiches Vokabular zur Tempodifferenzierung dient zur Beschreibung des eigentümlichen Rubato-Spiels.

Bei Enescu zu Hause

Die Geigerin Ida Haendel | Bildquelle: picture-alliance/dpa Ida Haendel im Alter von 83 Jahren | Bildquelle: picture-alliance/dpa Zurück in Paris: In die Geigenstunde, die immer in Enescus Wohnung in der Rue de Clichy stattfand, kam seine jüngste Schülerin: Ida Haendel. Sie spielte ihm seine Sonate vor. "Wenn Sie mich fragen, was ich spüre, wenn ich diese Werke spiele – phänomenal natürlich", begeistert sich die Künstlerin noch Jahrzehnte später. "Ich habe Enescu die Dritte Sonate vorgespielt und er hat mich angeschaut. Er war immer beim Klavier, er hat Geige eigentlich nie vorgespielt vor den Schülern – niemals! Aber er war beim Klavier und hat mich angeschaut und gesagt: 'Hast du eigentlich diese Sonate mit mir studiert?' Er hat sich nicht erinnert, ich weiß nicht warum. Und ich sagte: 'Eigentlich nein'. Das war alles."

Diese Sonate passt zu mir. Ich liebe es, sie zu spielen – so oft wie möglich!
Ida Haendel zu Enescus Violinsonate Nr. 3

Flesch contra Enescu

Oft dachte die berühmte, 2020 gestorbene Geigerin an ihre Lehrzeit bei George Enescu zurück. Als diese Radiosendung mit ihr entstand, war Ida Haendel bereits 86 Jahre alt. Gerade als Lehrer unterschied sich Enescu grundlegend von Carl Flesch, von dem Ida Haendel zuvor unterrichtet worden war: "Ich denke heute noch oft darüber nach. Der Unterschied war, dass Carl Flesch ein richtiger Pädagoge war; er wusste psychologisch, was ein Schüler brauchte und was er nötig hatte für diese Entwicklung, künstlerisch und musikalisch und so weiter. Enescu war ganz anders, der war wirklich ein Künstler. Und er hat sich nicht damit beschäftigt, wieso ein Schüler das erschafft. Er wollte nur das Resultat. Er war unglaublich, und ich bin fasziniert von dieser Sonate." Es ist ein Werk, das für Ida Haendel bis ins hohe Alter etwas ganz Besonderes bedeutete: "Ich finde, diese Sonate passt zu mir. Ich liebe es, sie zu spielenso oft wie möglich! Sie ist ganz nah an meiner Seele."

Musik-Info

George Enescu:
Sonate für Violine und Klavier Nr. 3 a-Moll, op. 25 ("Dans le caractère populaire roumain")


Ida Haendel (Violine)
Vladimir Ashkenazy (Klavier)

Label: Decca

Sendung: "Das starke Stück" am 16. Mai 2023, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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