Berlin, 28. Oktober 1915: Richard Strauss dirigiert zum ersten Mal die "Alpensinfonie". Vor ihm die Dresdner Kapelle in riesiger Besetzung. Allein über 60 Streicher füllen die Bühne, nebst doppelten Holzbläsern, Blech, Orgel, Kuhglocken, Wind- und Donnermaschine. Hatte Strauss nicht eigentlich vor zwölf Jahren die Reihe seiner Tondichtungen abgeschlossen? Er, der Komponist von "Salome", "Elektra" und "Rosenkavalier"? Und nun dieses Mammutwerk!
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Aber Strauss will sich noch einmal in der Symphonik versuchen. Und über einen riesigen Orchesterapparat zu verfügen, bedeutet ja nicht unbedingt, ihn permanent voll auszunutzen. Im Gegenteil. Strauss experimentiert lieber mit dem Orchester, schafft subtile Klangwirkungen, teilt die Streicher, lässt solistisch, ja kammermusikalisch musizieren, um schließlich als Fazit festzustellen: "Jetzt endlich hab' ich instrumentieren gelernt."
Programmatisch knüpft er an die vorausgegangenen Tondichtungen an. Sicher, zum einen ist da die Erinnerung an eine Bergtour, eine große Bergpartie auf den Heimgarten. Doch eigentlich soll die in 23 Abschnitten beschriebene Gipfelbesteigung mit Vision, Abstieg und Nacht ein Künstlerleben nachzeichnen – genauso wie es bereits in "Don Juan" oder "Zarathustra" geschehen ist. Ursprünglich dachte Strauss sogar an die Biografie des Malers und Bergsteigers Karl Stauffer-Bern. Aber wichtiger war ihm dann doch der Hinweis auf Friedrich Nietzsche: "Ich will meine Alpensinfonie: den Antichrist nennen, als da ist: sittliche Reinigung aus eigener Kraft, Befreiung durch die Arbeit, Anbetung der ewigen herrlichen Natur."
Man muss geübt sein, auf Bergen zu leben – das erbärmliche Zeitgeschwätz unter sich zu sehen.
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Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůša - Richard Strauss: Eine Alpensinfonie, op. 64
Von ihm ließ sich Richard Strauss in seiner "Alpensinfonie" inspirieren: Friedrich Nietzsche. | Bildquelle: picture alliance / ZUMAPRESS In Nietzsches "Antichrist" hatte Strauss gelesen: "Man muss geübt sein, auf Bergen zu leben – das erbärmliche Zeitgeschwätz [...] unter sich zu sehen." Soll für ihn heißen: über das Philistertum in künstlerischer Freiheit hinauszuwachsen. Was war also das Bild eines Aufstiegs in den Augen des Komponisten anderes als "beginnendes selbständiges Denken und erste (künstlerische) Versuche", das Erreichen des Gipfels anderes als das Höchstmaß allen Könnens? Kein Wunder, dass Strauss gerade hier versucht, zukunftsweisend zu komponieren! Und doch: Seine filigrane Klangkunst und sein ganz individueller Umgang mit der pastoralen und symphonischen Tradition können nicht darüber hinwegtäuschen: So revolutionär wie die frühen Tondichtungen ist die "Alpensinfonie" nicht mehr. Immer neue musikalische Gipfel zu erklimmen, fällt eben schwer mit über 50. "Neue Ohren für neue Musik" – so hatte es im "Antichrist" gestanden. Doch das wird erst für Schönberg gelten.
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Sendung: "Allegro" am 28. Oktober 2021 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK