BR-KLASSIK

Paris, 23. Oktober 1764: Ein grausiger Fund im Morgengrauen. Noch hängt der Nebel über der Rue de Carême-Prenant in einem abgelegenen und verrufenen Pariser Vorort, als der Gärtner in aller Herrgottsfrühe die offenstehende Tür bemerkt. Den Hut im Garten. Die Perücke.

Getrieben von einer dunklen Vorahnung, unterstützt von einem Kollegen, begafft von Schaulustigen, tastet er sich ins Haus vor und findet in der Diele seinen Dienstherren: den Geiger Jean-Marie Leclair, auf dem Rücken liegend, in einer Blutlache, getötet durch drei Messerstiche in Schulter, Brustkorb, Bauch. Daneben: verstreute Manuskripte, ein Buch, ein Jagdmesser. Frankreich betrauert einen großen Musiker. Jean-Marie Leclair wurde 67 Jahre alt.

Strahlemann mit dunklen Seiten

Leclair war kein Teufelsgeiger wie Tartini oder Paganini, sondern berühmt für seinen schönen Ton, seine Genauigkeit. Vor jedem Satz stimmte er seine Geige neu. Aber der engelsgleiche Strahlemann hatte auch seine dunkle Seite. Aus dem königlichen Hoforchester schied er im Streit, weil er sich den Chefposten nicht mit einem Konkurrenten teilen wollte. Unruhige Wanderjahre folgten. Mit über 60 Jahren trennte er sich von seiner Frau, zog in den zwielichtigen Vorort La Courtille, wo er schließlich eines frühen Morgens seinen Mörder traf.

Bis heute ungeklärt

"Er hat nur bekommen, was er verdient, nachdem er immer wie ein Wolf gelebt hat", gab sein Neffe Francois-Guillaume Vial zu Protokoll. War womöglich der Neffe selbst der Mörder? Dieser verkrachte Musiker, der vom berühmten Onkel abgewiesen worden war? Die Polizei hatte ihn von Anfang an im Verdacht. Oder war es die verlassene Ehefrau? Eine Notenstecherin, die ihre maroden Finanzen bald durch Veröffentlichungen aus dem Nachlass aufbessern sollte? Zur Beerdigung kam sie jedenfalls nicht. Oder war der Mörder diesmal tatsächlich der Gärtner? Seine Aussage strotzte vor Ungereimtheiten. Doch weder ihm noch den anderen konnte die Polizei etwas nachweisen. Und so bleibt der Fall Leclair bis heute ungeklärt.