Mézy-sur-Seine bei Paris, 15. März 1918: Die Komponistin Lili Boulanger stirbt. "Lili Boulanger hätte Musikgeschichte schreiben können." So titelt hundert Jahre später der "Tagesspiegel", und es ist allenfalls die halbe Wahrheit: Lili hat Musik geschrieben. Wir schreiben Geschichte, wir erinnern oder vergessen. Manchmal zu Recht – und oft zu Unrecht. Wie bei Lili Boulanger. Offensichtlich. Denn diese begnadet begabte Frau war schnell vergessen.
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Mit ihrer Kantate "Faust und Helena" gewinnt Lili Boulanger 1913 als erste Frau den renommierten Rompreis. Mit gerade mal 19 Jahren zieht sie an ihren männlichen Mitbewerbern vorbei und aus "Lili wer?" wird Lili Boulanger. Diese Auszeichnung: ein Türöffner, wie zuvor schon für Debussy oder Massenet. Und diese Tür zur Villa Medici passiert Lili Boulanger. Durch viele andere Türen kann sie nicht hindurchgehen – obwohl sie offen sind. Lili Boulanger ist krank. Leidet seit ihrem dritten Lebensjahr unter chronischen Schmerzen. Lunge, Magen-Darm.
"Ich begreife, dass ich niemals das Gefühl haben werde, das getan zu haben, was ich wollte. Denn ich kann nichts ohne Unterbrechungen tun. Und die sind länger als meine Arbeitsphasen selbst." So resümmiert Lili Boulanger. Sie muss sich immer wieder isolieren, absolviert den Kompositionsunterricht vor allem korrespondierend und sucht und findet ihr Glück: in der Musik.
Etwa 50 Werke schreibt Lili Boulanger in sieben Jahren. Lieder, zärtelnde Klavier-Miniaturen, hymnische Chorwerke. Schmerz und Licht, Schatten und Leichtigkeit – ihre Musik eine Musik mit viel Oben, viel Unten, wenig Mitte. Die letzten musikalischen Gedanken diktiert sie, da sie keinen Stift mehr halten kann, ihrer Schwester Nadia.
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Lili Boulanger: D'un soir triste (1918)
Und schließlich: der Tod, unvermeidlich und kaum überraschend, und zugleich: viel zu früh. Es ist das letzte Jahr des Ersten Weltkrieges. Die Menschen sind das Sterben fast schon gewohnt. Trotzdem ist die Anteilnahme zunächst groß, Begräbnis auf dem Friedhof Montmartre, hier und dort ein Konzert. Die ältere Schwester Nadia ist seither hingebungsvoll darum bemüht, die Erinnerungen an Lili Boulanger wach zu halten. "Meine Schwester Lili, das war die Komponistin", sagt Nadia, die als eine der bedeutendsten Kompositionslehrerinnen der Musikgeschichte in die Annalen einging. "Sie war schon eine bedeutende Komponistin, als sie mit 24 starb."
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Sendung: "Allegro" am 15. März 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK