Paris, 31. Juli 1913. Die Zeitschrift "Musical Leader" berichtet: "Die Komponistin Lili Boulanger erhält als erste Frau den Rompreis". Ihr Sieg ist eine Sensation. Etwas, das es noch nie gegeben hat. "Eine Frau, Lili Boulanger, die 19-jährige Tochter eines Gesangslehrers am Konservatorium, hat den Grand Prix de Rome gewonnen, wobei es das erste Mal in seiner 110-jährigen Geschichte ist, dass eine Frau den heißbegehrten Preis erhielt".
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Der "Musical Leader" ist nicht die einzige Zeitschrift, der es den Atem verschlägt. Da räumt doch ein weibliches Wesen bei einem Wettbewerb ab, der als Garant für die große männliche Komponistenkarriere gilt. Berlioz, Bizet, Debussy, die Namen einiger Rompreisträger sprechen für sich.
Auch wenn es so manchem Tonkunst-Chauvi nicht schmecken will – "rosa Gefahr" lautet ein Schlagwort –, Lilis Erfolg ist hochverdient. Über mehrere Runden hat sie ihre männlichen Konkurrenten wie Musikstudenten aus dem ersten Semester aussehen lassen. Und als die Hochbegabte, die als Kind von Gabriel Fauré unterrichtet worden war, im Finale des Wettbewerbs die Kantate "Faust et Hélène" vorstellt, entscheiden sich 31 der 36 "Kunstrichter" für sie. Ein Umstand, den ein Journalist folgendermaßen kommentiert: "Die Frauenfeindlichkeit der Jury war bekannt. Folglich wurde die weibliche Kantate mit gnadenloser Aufmerksamkeit gehört, was ihr in dieser Atmosphäre den Stellenwert einer beeindruckenden und bedrohlichen feministischen Präsentation gab".
Die Komponistin der "feministischen Kantate" ist eine zarte, zerbrechliche Frau. Zeitungen schreiben von "Anmut", von "einem Schatten im weißen Kleid". Was nach dem Klischee vom "ätherischen Künstler-Wesen" klingt, hat einen traurigen Hintergrund: Lili Boulanger ist schwer krank. Sie leidet an chronischer Lungenentzündung und Morbus Crohn. Der ersten weiblichen Rompreisträgerin ist kein langes Leben beschieden. Die Komponistin Lili Boulanger, eine der größten Talente ihrer Generation, stirbt 1918 im Alter von 24 Jahren und wird auf dem Pariser Friedhof Montmartre beigesetzt.
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Lili Boulanger: Faust et Hélène (1913)
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Sendung: "Allegro" am 31. Juli 2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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