Paris, 10. Januar 1912. Eine Überraschung ist das nicht. Eigentlich studiert Lili Boulanger Musik, seit sie denken kann. Nun wird die junge Französin als Studentin für Komposition am Conservatoire de Paris zugelassen. Ihr Ziel: den begehrten Grand Prix de Rome zu gewinnen.
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Lili Boulanger kommt aus einer traditionsreichen Künstlerfamilie: die Mutter Sängerin, der Vater Komponist, die ältere Schwester Nadia Dirigentin und Musikpädagogin. Schon als Kind spielte sie fünf Instrumente, füllte ihre Schubladen mit Skizzenbüchern und Kompositionen und begleitete regelmäßig ihre Schwester ins Conservatoire, zu Fauré und Ravel, Koechlin und Florent Schmitt.
Kein Wunder, dass Lili auch längst entschieden hat, den begehrten Rom-Kompositionspreis zu gewinnen - trotz ihrer chronisch labilen Gesundheit. Im Sommer 1912 wagt sie zum ersten Mal die anstrengende Teilnahme. Die Folge: Nach einigen Durchläufen rebelliert ihr geschwächter Körper, was die verbissene Kämpferin jedoch nicht davon abhält, ein Jahr später erneut anzutreten. Und diesmal hält sie durch: Ihre Kantate "Faust et Hélène" sorgt für Furore. Lili siegt mit 19 Jahren als erste Frau in der 110-jährigen Geschichte des Wettbewerbs. Die Presse steht Kopf.
Der Sieg ist hart verdient.
"Lili Boulanger hat über alle ihre männlichen Konkurrenten triumphiert … was die übrigen Kandidaten einigermaßen verstört zurückgelassen hat, schwitzten sie doch seit Jahren Blut und Wasser, um sich dem Preis unverdrossen zu nähern. Der Sieg ist hart verdient ... die weibliche Kantate wurde mit gnadenloser Aufmerksamkeit gehört, was ihr in dieser Atmosphäre den Stellenwert einer beeindruckenden und bedrohlichen feministischen Präsentation gab."
Ab jetzt wird die Hochbegabte mit Konzertangeboten, Stipendien und Preisen überschüttet. Ein Pensum, das sie kaum bewältigen kann, zumal lebensgefährliche Lungen- und Darmerkrankungen sie immer wieder zurückwerfen. Trotzdem arbeitet sie wie eine Besessene, komponiert Psalmvertonungen, Solokantaten, Instrumentalmusik - harmonisch radikal, jenseits aller klassisch romantischer Regeln, von einer ganz individuellen Klangfarbe geprägt.
Viel Zeit bleibt ihr nicht. "Pie Jesu" wird Lili Boulangers letztes Werk, ihr eigenes Requiem. Am 15. März 1918 stirbt die 24-jährige Künstlerin, die mit ihrer einzigartigen Musiksprache den französischen Impressionismus entscheidend geprägt hat: "Honegger, Poulenc, Roussel, um nur drei zu nennen, die sie überlebten, verdanken ihr viel. Sie ist außergewöhnlich."
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Sendung: "Allegro" am 10. Januar 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK