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"Sound Within Sound" – Kate Molleson erzählt Musikgeschichte neu Jenseits des Kanons

Kein Kanon ohne blinde Flecken: Das beweist Kate Molleson in ihrem neuen Buch. Ihre Essays lassen zehn Musikpioniere leuchten, denen wir unbedingt unser Ohr schenken sollten. Auch so klingt das 20. Jahrhundert.

Das Sachbuch "Sound Within Sound" von Kate Molleson | Bildquelle: BR

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Dieses Buch ist das Beste, was dieser Debatte passieren konnte. Seit Jahren wird über mangelnde Diversität in der Klassik diskutiert. Heute wie damals. Zu weiß, zu männlich, zu europäisch sei die Musikgeschichte. Zumindest so, wie wir sie bislang erzählt haben. Das lässt sich nicht abstreiten, löst aber mitunter scharfe Abwehrreflexe aus von jenen, die Bach und Beethoven nun von einer Art wokem Aktivismus bedroht sehen, dem Diversität über Qualität geht. Ende. Aus. Kulturkampf.

Niemand denkt ernsthaft daran, Mozart oder Mahler abzuservieren.
Kate Molleson

Die britische Musikjournalistin Kate Molleson hält solche Ängste für vorgeschoben. Und versichert trotzdem, sie wolle niemandem etwas wegnehmen. "Niemand denkt ernsthaft daran, Mozart oder Mahler abzuservieren. (...) Ich wäre die erste, die sich dagegen wehren würde." (Übers. v. Rez.) Auch sie liebe Bach, Beethoven oder Strawinsky. Und vieles darüber hinaus. Und genau darum geht’s: um das, was es alles gibt, wenn man mal über die Ränder des Kanons hinausblickt.

"Radikal" nennt der Verlag das, was Molleson hier vorlegt: eine "alternative Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts". Klingt wichtig, trifft allerdings weder den Sound noch den Angang des Buches. Der ist erfrischend unsystematisch: zehn essayistische Porträts von "im besten Sinne irritierenden, mutigen, unverschämten, originellen und charismatischen“ Komponistinnen und Komponisten, die, nach Mollesons Meinung bislang nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie verdienen. Kein Pathos. Kein neuer Kanon. Eher ein entspanntes: Guckt mal, gibt’s auch.

Mehr Weltreise als Musikgeschichte

Und was es da gibt. Molleson schickt die Leserin regelrecht auf Weltreise. Russland, die USA, Äthiopien, die Philippinen… einige der Porträtierten kommen aus dem globalen Süden oder haben dort gelebt. Mehr als die Hälfte sind Frauen. Was sie eint: Sie sind wenig bis kaum bekannt. Okay, von Galina Ustwolskaja hat der eine oder die andere sicher schonmal gehört. Nicht zuletzt dank der Salzburger Festspiele und ihres Intendanten Markus Hinterhäuser. Und den Fans elektronischer Musik dürfte auch Éliane Radigue ein Begriff sein. Der Rest will, soll, vor allem: darf entdeckt werden.

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Jose Maceda - Ugnayan - for 20 radio stations (1973) | Bildquelle: Im Walde (via YouTube)

Jose Maceda - Ugnayan - for 20 radio stations (1973)

Nehmen wir den philippinischen Komponisten José Maceda. Ausgebildet in Paris bei Alfred Cortot und Nadia Boulanger strebte er zunächst eine Karriere als Pianist an, ehe er begann, sich für die indigenen Musiksprachen Asiens zu interessieren. Sein Meisterstück: eine gigantische Performance in und rund um Manila. 20 Radiostationen spielten gleichzeitig seine Musik. Und das Volk war angehalten einzuschalten, den Sound über hunderte Kilometer hinweg im Land zu verteilen – was schon auf die problematische Voraussetzung hinweist, die dieses musikalische Megaevent hatte. Das war, wie Molleson schreibt, nämlich nicht nur ein "bahnbrechendes Soundexperiment, sondern auch ein aufgeblasenes patriotisches Spektakel im gigantischen Maßstab." Mit anderen Worten: Maceda hatte eine Diktatur im Rücken, die diese (im wortwörtlichen Sinn) Gleichschaltung der Radioprogramme überhaupt möglich machte.

Jede Biographie ist politisch

Politisches klingt in allen Biografien an, die Molleson hier erzählt. Das gilt vor allem für die Frauen, die sie in ihrem Zehnerzirkel auftreten lässt und die sich allesamt in Männerdomänen durchsetzen mussten. Was sie eint ist eine unwahrscheinliche Resilienz gegenüber Verbitterung. "Wir können nicht immer wählen, was uns das Leben beschert, aber wie wir darauf antworten liegt bei uns", erklärt die weit über 90-jährige und mittlerweile bettlägrige äthiopische Pianistin und Nonne Emhoy Tsengué-Maryam Guèbrou Kate Molleson, als diese sie in Jerusalem am Krankenbett besucht. Und die neuseeländische Komponistin Annea Lockwood mutmaßt, dass sie vielleicht nur deshalb so entschlossen das Experiment gesucht habe, weil die konventionellen Karrierepfade Männern vorbehalten gewesen seien. Ein "meisterhaftes Refraiming" sei das, kommentiert Molleson. Ein Nachteil wird umstandslos in einen Vorteil umgemünzt.

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The Homeless Wanderer | Bildquelle: Tsegue-Maryam Guebrou - Topic (via YouTube)

The Homeless Wanderer

Hier zeigt sich einmal mehr: Molleson ist eine super Zuhörerin. Analytisch und empathisch. Einige ihrer Protagonistinnen trifft sie persönlich. Diese Kapitel leben von ihrer Aufmerksamkeit für sprechende Details, ihrer unaufdringlichen Nähe zu denen, über die sie schreibt. Vor allem aber schreibt Molleson unheimlich gut über Musik. Sinnlich, präzise, unverkrampft. Klar wird man da neugierig. Auf Lockwoods Tonbandcollagen, die ihre Stimme mit der eines Tigers derart vermischen, dass daraus eine Art "wilder, prächtiger Avatar" wird. Oder auf die "federleichten" Klavierminiaturen von Emhoy Guèbrou, die sich über jedes Zeitmaß spielend "hinwegperlen".

Sie übt sich in Geduld, als wäre es ein Extremsport.
Kate Molleson über Éliane Radigue

Das Highlight dieses Buches sind jedoch die zärtlich-klugen 25 Seiten über Éliane Radigue, diese Grande Dame der elektronischen Musik. "Als würdest du dich auf einen unscheinbaren Fleck im Nachthimmel konzentrieren und darin plötzlich das Schimmern des Nordlichts entdecken" – so beschreibt Molleson den Gestaltswitch, den Radigues zeitlupenschwere Soundflächen beim Hören triggern. Klingt nach Kitsch, ist es aber nicht. Präziser kann man nicht ausdrücken, wie Radigues Musik die Wahrnehmung verlangsamt, sensibilisiert, bis der Klang plötzlich sein Geheimnis preisgibt, mäandernde Obertöne, spinnfadenfeine rhythmische Texturen – Klang im Klang eben, "Sound Within Sound".

Nein, es ist keine Musikgeschichte, die Kate Molleson da geschrieben hat. Eher eine Roadnovel, ein Trip zu den Außenposten der klassischen Musikszene. Und eine unwiderstehliche Einladung, es ihr gleichzutun. Sonst: "More fool us" – selbst schuld. Stimmt.

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Eliane Radigue ‎- Triptych (1978) FULL ALBUM | Bildquelle: The Saturn Archives (via YouTube)

Eliane Radigue ‎- Triptych (1978) FULL ALBUM

Infos zum Buch

Kate Molleson ist studierte Klarinettistin und Musikwissenschaftlerin. Als Journalistin schreibt sie unter anderem für den Guardian, den Herald und das BBC Music Magazine. Darüber hinaus moderiert sie ihre eigene Show bei BBC3. "Sound Within Sound", ihr erstes Sachbuch, ist auf Englisch bei Faber & Faber erschienen und kostet 22 Euro. Neben Galina Ustwolskaja, Éliane Radigue, Emhoy Tsengué-Maryam Guèbrou, Annea Lockwood und José Maceda behandelt sie dort auch noch die Komponistinnen Else Marie Pade und Ruth Crawford Seeger sowie die Komponisten Walter Smetak, Julián Carrillo und Muhal Richard Abrams.

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