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Dirigentin Anu Tali Ihre Nachbarn nennen sie "Turbo-Estin"

Ein estnischer Komponist und eine Estin am Dirigierpult: Mit dem Georgischen Kammerorchester Ingolstadt probt Anu Tali gerade ein Werk von Arvo Pärt. Was sie an ihrer baltischen Heimat besonders schätzt, erzählt die Dirigentin im Interview.

Anu Tali | Bildquelle: Kabir Cardenas

Bildquelle: Kabir Cardenas

BR-KLASSIK: Anu Tali, als Dirigentin ist Ihr Instrument ja das Orchester und somit die Menschen. Wenn Sie zu einem Orchester kommen wie jetzt zum Georgischen Kammerorchester Ingolstadt: Wie lernen Sie Ihr "Leihinstrument für eine Woche" kennen?

Anu Tali: Mein kleiner Sohn hat immer gesagt: "Mama, manchmal tust du mir leid. Du musst immer wieder mit neuen Leuten spielen. Ich muss nur meine Hände auf das Klavier setzen und das ist alles." Für ihn ist das natürlich sehr einfach. Ich kann mich nicht erinnern, dass das jemals so einfach für mich war, nicht einmal als Kind. Aber wenn man älter wird, sammelt man mehr Erfahrungen. Man genießt es, neue Leute zu treffen, neue Dinge zu erreichen und zu sehen, was einen erwartet. Ich glaube nicht, dass man die Leute dabei so richtig kennenlernt. Aber als Dirigentin sollte man nie Angst davor haben, verschiedene Ideen zu haben und unterschiedliche Persönlichkeiten kennenzulernen, denn das macht es so fantastisch, Musikerin zu sein.

Anu Tali: Der Schlüssel zu Pärts Musik ist die Einfachheit

BR-KLASSIK: "Fratres" von Arvo Pärt ist ein Stück, in dem eine ganz eigentümliche Spannung herrscht. Eine Spannung, die an eine glatte Wasseroberfläche erinnert, vielleicht wie bei einem See mitten im Wald. Wie hält man diese Spannung aufrecht als Dirigentin?

Anu Tali: Gerade bei Arvo Pärts Musik sollte man versuchen, es einfach zu halten. So wie er es selbst sagt: Es reicht, eine Note oder einen Ton wunderschön zu spielen. Und ich denke, gerade das Stück "Fratres", das übersetzt "Brüder" heißt, sollte in einer Weise gespielt werden, die einstimmig schön ist und wo man jede Note genießen kann. Man sollte sich nicht zu fest an einer strikten Linie festhalten, das würde es eher unnötig schwierig machen. Der Schlüssel zur Musik ist die Einfachheit und das gemeinsame Erschaffen in der Gruppe. Darum mache ich Musik mit Orchestern: Das gleiche Ziel zu haben hat eine enorme psychologische Bedeutung. Oder sollte es zumindest.

In Mitteleuropa geht es deutlich hektischer zu als in Estland.
Dirigentin Anu Tali

BR-KLASSIK: Sie haben mal gesagt, die Esten sind etwas langsam. Begegnet Ihnen das im Alltag auch?

Porträt der Dirigentin Anu Tali | Bildquelle: Kabir Cardenas Die Dirigentin Anu Tali schätzt die Natur ihres Heimatlandes Estland sehr. | Bildquelle: Kabir Cardenas Anu Tali: Unsere Nachbarn lachen oft über uns und nennen uns die "Turbo-Esten". Also eher untypisch. Was auf jeden Fall stimmt: Wir Esten sind enorm geduldig. Ich glaube, das liegt daran, dass wir Esten beständig und belastbar sind. Es geht dabei nicht um die Nationalität, Mensch ist Mensch, hier in Deutschland und in Estland. Wir haben nur unterschiedliche Persönlichkeiten. Aber ich glaube, die Natur spielt schon eine große Rolle, der Ort, wo man lebt. In Estland gibt es lange Winter und lange Nächte. Und die großen Wälder. Deswegen bin ich davon überzeugt, dass wir eins werden mit dem Ort, von dem wir kommen. Ich mag Estland sehr. Aber ich genieße es auch, in Mitteleuropa zu sein, wo es deutlich hektischer zugeht. Auf diese Weise kann ich noch vielmehr schätzen, wo ich herkomme.

Die Dirigentin Anu Tali zu Gast beim GKO

Am 12. Januar 2023 dirigiert Anu Tali das Georgische Kammerorchester Ingolstadt (GKO) mit Werken von Pärt, Yusupov, Mozart und Haydn. Einzelheiten zum Programm finden Sie hier.

Anu Tali spricht fünf Sprachen

BR-KLASSIK: Glauben Sie denn, dass die Sprache auch eine Rolle spielt? Kaum ein Mensch auf dieser Welt außer in Estland spricht ja Estnisch.

Anu Tali: Ja das stimmt, die estnische Sprache ist wie ihre Natur. Mit ihrer unendlichen Weite ohne viele Berge. Es ist eine fließende Sprache und spricht sich sehr geradlinig. Und ich glaube fest daran, dass Sprache auch zum Teil der Musik wird. Musik von Bach oder Brahms hat viel mit der Rhetorik der Sprache zu tun. Genauso wie bei Arvo Pärt, der viele folkloristische Redensarten in seiner Musik vertont hat. Oder wie bei Tschaikowskys Musik, in der man russisch-orthodoxe Choräle raushören kann. Ich denke wirklich, dass da immer etwas von der Sprache drinsteckt.

Es ist wichtig, dass man sich die Orte, an die man zieht, zu eigen macht.
Anu Tali

BR-KLASSIK: Sie haben Ihr Abitur in Stockholm gemacht, dann in Estland, Finnland und Russland studiert. Wie viele Sprachen sprechen Sie eigentlich?

Anu Tali: Ich kann die Sprachen der Orte, an denen ich gelebt habe. Es ist wichtig, dass man sich die Orte, an die man zieht, zu eigen macht und einer von den Einheimischen dort wird. Also spreche ich Schwedisch, Finnisch und Russisch durch meine Studienzeit. Und natürlich Estnisch und Englisch. Und manchmal fake ich auch ein bisschen Deutsch.

Sendung: "Leporello" am 12. Januar 2023 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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