Soll man im Westen derzeit Werke russischer Komponisten aufführen? Tschaikowsky auf jeden Fall, findet der in der Ukraine aufgewachsene Choreograph Alexei Ratmansky – und inszeniert in München einen Abend mit Tschaikowsky-Ouvertüren. BR-KLASSIK hat mit ihm über seine Haltung zur russischen Kultur gesprochen.
Bildquelle: Wilfried Hösl
BR-KLASSIK: Alexei Ratmansky, Sie haben gerade zu Tschaikowskys Musik ein Stück am Bayerischen Staatsballett choreographiert. Angesichts des russischen Angriffskrieges in der Ukraine gab es in der westlichen Welt eine große Debatte darüber, welche russischen Komponisten gespielt werden sollten und welche nicht. Über Tschaikowsky wurde auch heiß diskutiert. Was denken Sie darüber? Warum ist er Teil Ihrer Münchner Aufführung?
Alexei Ratmansky: Meiner Meinung nach sollten Künstler, die mit Putin in Verbindung gebracht werden können, nicht im Westen auftreten dürfen. Auch staatliche und vom russischen Staat geförderte Kulturinstitutionen sollten hier im Westen kein Gehör finden – denn diese zahlen ihre Steuern in Russland, und von diesem Geld wird das Töten der ukrainischen Bevölkerung unterstützt. Doch Tschaikowsky ist seit langem ein Teil der Weltkultur. Er gehört der ganzen Welt, er gehört nicht zu Putin. Und in diesem Sinne denke ich nicht, dass sein Werk gecancelt werden sollte.
Am Ende dachte ich, dass ich Tschaikowsky nicht Putin und seinem Krieg überlassen will.
Aber ist eine sehr komplexe Frage, und es gibt berechtigterweise unterschiedliche Meinungen dazu. Ich selbst hatte anfangs Schwierigkeiten, dieses Tschaikowsky-Projekt anzugehen. Ich wollte sogar erst die Planungen ändern, doch es waren schon so viele Leute in dieses Projekt involviert. Und am Ende dachte ich, dass ich Tschaikowsky nicht Putin und seinem Krieg überlassen will, er gehört ihnen nicht. Tschaikowsky war großer Humanist und seine Musik ist das Gegenteil von dem, was der russische Staat heute ist.
Das abstrakte Ballett-Werk "Tschaikowsky-Ouvertüren" fokussiert sich auf die Auseinandersetzung mit den drei in Deutschland selten gespielten Fantasieouvertüren nach Shakespeare-Werken: aus "Hamlet", "Der Sturm" sowie "Romeo und Julia". Alexei Ratmanskys Choreographie folgt dabei vor allem den Stimmungen der Musik. Premiere an der Bayerischen Staatsoper ist am 23. Dezember 2022.
BR-KLASSIK: Was waren die Gründe dafür, dass Sie anfangs gezweifelt haben, ob es richtig wäre, Tschaikowsky auf die Bühne zu bringen?
Alexei Ratmansky: Ich will ehrlich sein: In den ersten Wochen hatte ich Schwierigkeiten mit diesem Stück. Ich dachte, dass ich vielleicht etwas tue, was meinen Idealen widerspricht. Aber jetzt bin ich überzeugt, dass es das Richtige ist. Wissen Sie, meine Mutter ist Russin, ich bin in Russland geboren, aber ich bin ein Ukrainer, ich bin in Kiew aufgewachsen. Millionen von Menschen in Russland und der Ukraine sind gespalten – so wie ich.
Tschaikowsky liebte die Ukraine und er verwendete ukrainische Musik als Inspiration.
Bildquelle: Fabrizio Ferri Tschaikowsky selbst hatte ukrainische Wurzeln: Sein Großvater war Ukrainer. Und er hat einen großen Teil seiner Musik in der Ukraine geschrieben. Er liebte die Ukraine, und er verwendete ukrainische Musik als Inspiration für seine Werke. Ich bin davon überzeugt, dass er nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, was heute in Russland passiert. Tschaikowsky lebte in einer anderen Zeit. Und wenn er jetzt leben würde, wäre er zu 100 Prozent gegen diese Aggression und die Verbrechen des russischen Staates.
BR-KLASSIK: Wie geht es Ihnen persönlich mit der aktuellen Situation in der Ukraine?
Alexei Ratmansky: Es ist eine Tragödie und ein Ende ist leider nicht abzusehen. Ich denke, die Ukraine hat außergewöhnlichen Mut, Stärke und einen starken Geist bewiesen. Die Leute kämpfen für ihr eigenes Land und für ihre Freiheit, für ihr Recht, selbst zu entscheiden, wie sich ihr Land entwickeln soll. Für ihr Recht, ihr Erbe, ihre Kultur und ihre Sprache zu bewahren. Es ist schön, zu sehen, wie die Nation jetzt geeint ist - und wie die ganze Welt die Ukraine im Kampf für die Freiheit unterstützt. Gleichzeitig liest man jeden Tag die Nachrichten über den Tod Hunderter Unschuldiger: Zivilisten, Kinder, Frauen, alte Menschen. Für meine Familie in der Ukraine und die Familie meiner Frau sind das sehr herausfordernde Zeiten.
Sendung: "Leporello" am 23. Dezember 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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