Vor zehn Jahren nahm die Musikwelt Abschied vom Dirigenten Claudio Abbado. Ein persönlich gefärbter Blick auf einen großen Musiker mit ganz subjektiven Erinnerungen an den einst in Mailand, Wien, Berlin und Luzern jahrelang umjubelten Pultstar.
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Es beginnt mit siebzehn Jahren - da lerne ich eine Aufnahme des 1933 geborenen Claudio Abbado kennen, schätzen, lieben. Er dirigiert die Oper "Simon Boccanegra" von Giuseppe Verdi. Hörend bekomme ich eine Ahnung davon, wer sich hinter diesem berühmtesten Mitglied einer Mailänder Familie aus Musikerinnen und Musikern verbirgt. Die Art und Weise, wie das idiomatisch sattelfeste, traditionsreiche Orchestra del Teatro alla Scala di Milano, dessen Leiter Abbado 1977 wurde, hier spielt, lässt auf viel Noblesse, viel Charisma am Dirigentenpult schließen. Wie auf Händen getragen, scheint eine Schar wunderbarer Sängerinnen und Sänger (etwa Piero Cappuccilli), mit fabelhafter Sopranistin in ihrer Mitte (Mirella Freni). Besonders in der bewegenden Wiedererkennungsszene zwischen Vater und Tochter nach 25 Jahren Trennung spüre ich eine starke Persönlichkeit an diesem Zauberstab namens Taktstock. Beim Friedensappell des Genueser Dogen habe ich den Eindruck, dass da äußerst präzise Vorstellungen von der Interpretation einer Opernpartitur walten – mit einer unverkennbaren Prise Demut vor einem musiktheatralischen Geniewurf.
Jahre später kommt es für mich zu einer Reihe von Live-Erlebnissen mit Claudio Abbado, wo ich ihn agieren höre und zugleich sehe. Und tatsächlich: So ähnlich habe ich mir seine Bewegungen vor dem Orchester vorgestellt, sein körpersprachliches Vokabular, seine Gestik und Mimik. Und die Art, wie freundlich, ja freundschaftlich fordernd er mit den Leuten umgeht, die seinen Einsätzen und Anweisungen bereitwilligst folgen. Das Miteinander scheint so großgeschrieben! Ich staune über verborgene Geheimnisse nonverbaler Kommunikation. Und bekomme nicht genug davon: in Konzertsälen zwischen München, Berlin, Köln und Wien. Ob nun das Chamber Orchestra of Europe spielt oder das London Symphony Orchestra, die Berliner Philharmoniker oder ihre Kolleginnen und Kollegen aus Wien – mir egal. Jedes Mal ist es ähnlich und doch anders. Wie soll ich dessen jemals überdrüssig werden?
Da gibt es eine imponierende Selbstverständlichkeit, mit der Claudio Abbado Kernrepertoire und Raritäten nebeneinanderstellt, ohne Neue Musik auszuklammern. Um Kompositionen von Luigi Nono geht es ihm ebenso wie um Vivaldi, natürlich auch Brahms oder Mozart. Und sobald Mahler-Sinfonien auf dem Programm stehen, sieht es für mich danach aus, als würde der Magier am Pult noch eine Extraportion Herzblut obendrauf packen. Ich bin beeindruckt von der Ruhe und Gelassenheit, die bei solchem Musizieren als Voraussetzung zu fungieren scheint. Auf dieser Basis entfalten sich planmäßig oder auch spontan Ausdruckswillen und Ausdruckslust. Bis in ekstatische Regionen hinein. Oder in Richtung Transzendenz. Gerne in naturgemäß betörenden Piano-Pianissimo-Regionen. Wie am langsam verlöschenden "morendo"-Schluss der letzten vollendeten Sinfonie Mahlers, seiner Neunten. Wenn über Minuten hinweg niemand mehr im Publikum zu atmen wagt und sich Applaus am Ende erst nach einer gefühlten Ewigkeit kollektiver Stille rührt.
Am 20. Januar 2014 starb der italienische Dirigent Claudio Abbado. BR-KLASSIK bringt zum 10. Todestag Abbados mehrere Sondersendungen, die sein großes Repertoire skizzieren: "Klassik-Stars" am Freitag, den 19. Januar 2024 um 18.05 Uhr; "Cantabile" am Samstag, 20. Januar 2024 um 13.05 Uhr und "Après-midi" am Sonntag, 21. Januar 2024, um 13.05 Uhr.
Claudio Abbado dirigiert das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 1988. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Schiebt sich denn die Persönlichkeit dieses "Nach-Schaffenden" mit einem Holzstab in der Hand nie auch mal eitel vor die Partitur des Komponisten? Aber nein! Claudio Abbado begnügt sich offenbar prinzipiell mit seiner eigentlichen Aufgabe - als Diener der Kunst. Aus seiner gleichsam lautlosen Erzählerperspektive blitzt zwar immer wieder die Meinung eines Interpreten auf, aber stets signalisiert er, dass es für dieses oder jenes Problem auch eine andere Lösung geben könnte. So fühlt sich Toleranz an. Das bestätigen auch Opernabende. Ich begegne dem damaligen Chef der Berliner Philharmoniker bei den Salzburger Osterfestspielen: Ob für Verdis "Otello", Wagners "Tristan", Strauss' "Elektra" oder Bergs "Wozzeck" - jedes Mal kann sich der Impulsgeber im Graben mühelos mit den ambitionierten Künstlerhandschriften identifizieren, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Und mit Atonalität tut er sich genauso leicht wie mit Dur-Moll-Landschaften der guten alten Zeit.
Als ich Claudio Abbado einmal für die Titelgeschichte eines Fachmagazins aus Anlass seines 60. Geburtstags zum Interview treffe, lässt er mich zum vereinbarten Termin geschlagene drei Stunden warten. Da steigt Verärgerung hoch, so sehr die Agentur auch mehrfach um Geduld bittet. Doch meine Verstimmung verdunstet förmlich, als er plötzlich vor mir steht und seine Verspätung entschuldigt: Ein keineswegs groß gewachsener, aber auf den ersten Blick innere Größe ausstrahlender Mensch. Von entwaffnender Zurückhaltung, von tiefer Bescheidenheit durchdrungen. Und doch mit der Aura der angeborenen Grandezza eines Aristokraten. Die Augen dieses Mannes lassen erahnen, von welcher inneren Glut er zehrt und - lebt.
Ein veritabler Schock für mich, einige Monate später an einem Berliner Silvesterabend: Als Claudio Abbado, von einer schweren Operation gezeichnet, vor Publikum und TV-Kameras tritt. Er dirigiert, als wenn er jetzt noch einmal und trotz allem jeden einzelnen Moment seines Lebens genießen wollte. Offenbar sieht er die letzten Meter seiner persönlichen Zielgeraden vor sich. Das Programm sieht - jubiläumsbedingt - ausgerechnet Verdis altersweisen Schwanengesang "Falstaff" vor, in konzertant dargebotenen Auszügen! Die Schlussfuge der Oper, "Tutto nel mondo è burla / Alles ist Spaß auf Erden", wirkt diesmal erschütternd doppelbödig, janusköpfig. Dem Kranken sind dann noch dreizehn erfüllte Jahre vergönnt, in denen er mit seinem Lucerne Festival Orchestra fulminante Höhenflüge am Vierwaldstättersee unternimmt. 2014 ist er mit 80 Jahren gestorben. Ja - es gibt bis heute wenige, die mir so fehlen wie Claudio Abbado.
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