Kaum ein anderer Dirigent polarisiert so wie Teodor Currentzis. Weil der Grieche seinen Arbeitsschwerpunkt in Russland hat und dort von Putins Regime profitiert. Aber auch weil er musikalisch oft ins Extrem geht. Die Salzburger Festspiele halten trotz aller Kritik eisern an Currentzis fest. Am Freitag durfte er mit seinen Utopia-Ensembles, die er speziell für Auftritte im Westen gegründet hat, das Eröffnungskonzert dirigieren. Auf dem Programm: Bachs "Matthäuspassion".
Bildquelle: © Anton Zavyalov
Er wäre so ein großartiger Dirigent! Wenn er nur seine Eitelkeit unter Kontrolle hätte. Wenn Teodor Currentzis einfach musiziert, ohne etwas demonstrieren zu wollen, dann klingt es über weite Strecken ganz wunderbar. Bachs Musik spricht, tanzt, fließt und pulsiert, berührt und erschreckt. Currentzis verbindet das historisch informierte Spiel auf alten Instrumenten mit einer sehr modernen Überwältigungsästhetik. Er will aufrütteln, es soll unter die Haut gehen. Eigentlich gut so. Die Dramatik der Leidensgeschichte wird drastisch herausgestrichen. Alle sollen maximal Ausdruck geben. Vergegenwärtigen, intensivieren, ausreizen, dabei lustvoll, spontan und technisch auf höchstem Niveau musizieren: Das ist Currentzis‘ Stärke. Und das passt ausgezeichnet zur "Matthäuspassion". Genau das wollte Bach ja mit seiner Musik erreichen: Eine Geschichte, die in ferner Vergangenheit spielt, soll in die Gegenwart geholt werden. Jesu Leiden ist nicht irgendwas von früher, nein: Es passiert jetzt, es geht um dich.
Warum ist die Diskussion um Currentzis eigentlich so kompliziert? Kunst und Moral – ein Klärungsversuch.
Currentzis hat dafür fantastische Leute in seinen Utopia-Ensembles versammelt. Vor allem der Chor ist überragend, singt schlank, beweglich, kraftvoll, mit exzellenter Textverständlichkeit. Das Orchester ist sehr groß besetzt, untypisch für die historisch informierte Aufführungspraxis, aber typisch Curretzis, der gern in die Vollen geht. Wenn dann nach aufbrausenden Tutti zarte historische Traversflöten solistisch spielen, ergeben sich maximale Lautstärke-Kontraste. Auch die Instrumentalisten des Utopia-Orchesters sind absolut fit, allerdings nicht so unanfechtbar wie der Chor. Die "Oboe da Caccia", eine gekrümmte, barocke Alt-Oboe, ist halt ein vertracktes Instrument.
Die Gesangssolisten tragen Currentzis‘ Konzept hundertprozentig mit. Julian Prégardien als Evangelist ist alles andere als ein abgeklärter Berichterstatter: Er dramatisiert, ja wütet, wenn er von den himmelschreienden Ungerechtigkeiten erzählt, die Jesus angetan werden. Im piano klingt seine Stimme leicht und höhensicher, im forte dagegen wird sein Tenor etwas eng. Und gelegentlich überzieht er einfach – aber das geht vermutlich auf Currentzis‘ Kappe. Sehr menschlich und intensiv im Ausdruck auch der Jesus von Florian Boesch. Herausragend unter den übrigen Solisten ist sein Bass-Kollege Matthias Winckhler: Warm, fokussiert, mit Klangfülle und Körperspannung, lebendig und sprechend phrasiert – schöner kann man das kaum singen.
Wiebke Lehmkuhl (Alt), Teodor Currentzis (Dirigent), Julian Prégardien (Tenor/Evangelist), Utopia Choir, Utopia Orchestra | Bildquelle: MArco Borelli
Doch warum setzt Currentzis zusätzlich zu seiner exzellenten Alt-Solistin Wiebke Lehmkuhl für einige Alt-Arien einen Countertenor ein? Auch Andrey Nemzer singt fabelhaft, aber durch diese Eigenwilligkeit werden Bezüge unklar – etwa wenn die zentralen Textworte "Buß und Reu‘" mal vom Countertenor, mal von der Altistin kommen. Doch nicht nur solche Details sind unstimmig: Currentzis schafft es einfach nicht, die Musik für sich selbst sprechen zu lassen. Ständig muss er mit nervigen Mätzchen dazwischengehen, sich unangenehm produzieren. Zum Beispiel am Licht drehen lassen. Ok, das kann in Maßen ein wirkungsvolles Mittel sein. Aber dann kann er es nicht lassen, mal wieder gnadenlos zu überziehen. Bei "Wenn ich einmal soll scheiden" wird der Saal zappenduster. Zarter Spot nur auf Currentzis! Plötzlich läutet eine (bei Bach natürlich nicht vorgesehene) Glocke, zu deren bedeutungsschwangerem Bimbam der Chor in Zeitlupe mehr haucht als singt.
Alles über die diesjährigen Salzburger Festspiele, die Radioübertragungen bei BR-KLASSIK sowie Videostreams finden Sie im Salzburg-Dossier.
Solchen Hokuspokus veranstaltet Currentzis leider des öfteren. Bei Jesu letzten Worten tritt der Gesangssolist ans Pult, bleibt aber stumm, weil der Chorbass im Kollektiv übernimmt. Ui. Die zweite Strophe von "Oh Haupt voll Blut und Wunden" wird hinter der Bühne gesungen, kaum hörbar – verwehte Stimmen aus dem Jenseits. Was Ergriffenheit auslösen soll, schlägt um in Esoterik-Kitsch. In seiner wichtigtuerischen, billigen Penetranz wirkt all das fast schon lächerlich. Es ist wirklich jammerschade! Currentzis wäre so ein großartiger Dirigent. Wenn er nur seine Eitelkeit unter Kontrolle hätte.
Sendung: "Piazza" am 20. Juli 2024 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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