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Ukrainischer Dirigent erschossen Erbitterte Propaganda-Schlacht um Cherson

Um die südukrainische Metropole Cherson kämpfen nicht nur Soldaten, sondern auch "Informationskrieger": Wilde, sich widersprechende Gerüchte machen die Runde. Bei den russischen Besatzern liegen die Nerven offenbar blank. Die Ukraine macht im Netz Druck. Das zeigt sich im Fall eines vermutlich ermordeten ukrainischen Dirigenten.

Konzerthalle in Cherson ist jetzt Propaganda-Zentrum | Bildquelle: Sergej Bobilew/Picture Alliance

Bildquelle: Sergej Bobilew/Picture Alliance

Es geht um die "Lufthoheit" in den Medien und um eine Stadt mit sehr hoher symbolischer Bedeutung: Cherson. Die südukrainische Stadt ist seit Kriegsbeginn von russischen Truppen besetzt. Anscheinend bereiten sich die Russen aber darauf vor, die Stadt, die vor Kriegsbeginn 290.000 Einwohner zählte, aufzugeben.

Laut ukrainischen Angaben ermordet: Dirigent Yuriy Kerpatenko

Wie sehr derzeit um die propagandistische Deutungshoheit in einer wichtigen Frontstadt gerungen wird, zeigt der Fall des Chefdirigenten des Musik- und Dramatheaters in Cherson, Yuriy Kerpatenko. Der 46-Jährige sei von den russischen Besatzern in seiner eigenen Wohnung erschossen worden, hieß es in ukrainischen und internationalen Medien, etwa dem britischen "Guardian", und zwar deshalb, weil der Künstler sich standhaft geweigert habe, mit den russischen Besatzern zusammenzuarbeiten. Er wollte demnach als Chef des Gilea-Kammerorchesters auch nicht an einem von den Russen angeordneten Konzert zum "Tag der Musik" am 1. Oktober teilnehmen, obwohl er selbst russisch gesprochen und von der russischen Kultur geprägt gewesen sei. Daraufhin sei er mehrmals von Geheimdienstleuten aufgesucht worden, die ihn bedroht und schließlich mit Schüssen durch die Tür getötet hätten.

An dem erwähnten Konzert, das aus Sicht der russischen Besatzer "Normalität" vorgaukeln sollte und als "psychologische Kampfmaßnahme" gemeint gewesen sei, hätten sich nicht, wie beabsichtigt, 16 Orchestermusiker beteiligt, sondern nur fünf, was gerade mal für ein Streichquintett gereicht habe.

Ukraine: "Er starb, ohne sich vor ihnen zu beugen"

"Er starb, ohne sich vor ihnen zu beugen", schreibt ein ukrainisches Online-Portal unter Berufung auf das ukrainische Kulturministerium über den Dirigenten: "Es gab viele wunderbare Musiker in der Geschichte der Philharmonie von Cherson, aber wir würden es sehr begrüßen, wenn sie ab jetzt den Namen Yuriy Kerpatenko tragen würde."

Hier wird also eine Märtyrer-Geschichte angedeutet, während die beiden jetzigen, mit den Russen kooperierenden Verantwortlichen des Konzerthauses von Cherson als "Verräter" gebrandmarkt werden. In dem Gebäude quartierte sich vorübergehend die Putin nahestehende Partei "Einiges Russland" ein, um "humanitäre Hilfe" zu organisieren.

Russland: "Wir haben es mit einer Fälschung zu tun"

Zum mutmaßlichen Mordanschlag auf den Dirigenten heißt es in russischen Kanälen, der Künstler sei Alkoholiker gewesen und derzeit unter seiner gemeldeten Adresse nicht auffindbar: "Wir haben es mit einer reinen Fälschung zu tun, die von ausländischen Medien verbreitet wird – der BBC", so der russische Fernseh-Manager Alexander Malkewitsch per Telegram. Dem Dirigenten sei es bereits "seit dem Sommer nicht gut gegangen". Der Putin-Fan müht sich, Zweifel an dem Todesfall zu säen: "Wer hat ihn gefunden? Gibt es ein Foto? Zeugen?"

Außerdem behaupteten die einen, Kerpatenko sei am 13. Oktober tot aufgefunden worden, andere sprächen dagegen vom 14. Oktober, so ein russisches Portal, das sich auf die Fahnen schreibt, speziell gegen Russland gerichtete "Fälschungen" in den Medien aufzudecken: "Solche Inkonsistenzen entstehen oft aufgrund des Mangels an echten Informationen und Versuchen, etwas zu erfinden, das nicht wirklich existiert." Sehr glaubwürdig wirkt diese "Gegenoffensive" jedoch nicht, denn das örtliche ukrainische Nachrichtenportal "Chersonline" hatte berichtet, dass der Tod des Dirigenten bereits am 12. Oktober bekannt geworden sei. Am 17. Oktober berichtete CNN, dass es seitens Kerpantekos schon im September keinen Kontakt zu Angehörigen mehr gegeben habe.

"Schwierig, mehr Details herauszufinden"

Auf Facebook hatte die ukrainische Journalistin Olena Wanina über den umstrittenen Fall um Yuriy Kerpatenko geschrieben: "Es ist schwierig, mehr Details herauszufinden, weil in Cherson jeder Angst hat, aber die Informationen sind hundertprozentig richtig."

Was nun stimmt, lässt sich aus der Distanz natürlich nicht feststellen, aber eines ist offensichtlich: Um Cherson tobt eine Propaganda-Schlacht, bei der den Parteien offenkundig alle Mittel recht sind. Umso mehr Vorsicht ist geboten, denn bei allen wichtigen Schlagzeilen mischen die Geheimdienste und Desinformanten kräftig mit.

Alle Infos zu den aktuellen Entwicklungen im Russland-Ukraine-Krieg finden Sie hier.

Sendung: "Leporello" am 17. Oktober 2022 um 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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