Den ersten Kontakt mit den Symphonien von Brahms hatte Zubin Mehta in seiner indischen Heimat – und seither setzt sich der Dirigent intensiv mit dem Werk des Komponisten auseinander. In dieser Saison ist der 87-Jährige zu Gast bei den Münchner Philharmonikern und führt in vier Konzertserien fast das gesamte symphonische Schaffen von Brahms auf.
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BR-KLASSIK: Herr Mehta, mit Brahms sind Sie in Bombay aufgewachsen, wann haben Sie ihn zum ersten Mal erlebt?
Zubin Mehta: Ich kann mich nicht erinnern, wann ich die erste Brahms-Platte gehört habe. Denn in Bombay hatten wir kein Orchester, das Brahms hätte spielen können. Es gab zwar eines, das meinen Vater im Brahms-Violinkonzert begleitet hat, aber die Symphonien konnte es nicht spielen. So habe ich die Brahms-Interpretationen von Toscanini oder Furtwängler gehört. In Wien habe ich dann die erste Symphonie mit den Wiener Philharmonikern unter Karl Böhm erlebt. Das war für mich eine Hör-Offenbarung.
Endlich habe ich ein Orchester live erlebt: die Wiener Philharmoniker im Wiener Musikverein, dem besten Saal der Welt. Ich habe nicht geglaubt, dass so ein Klang existiert! Das war eine Revolution in meinem Ohr – und diesen Klang habe ich nie vergessen. Als ich dann nach Montreal, Los Angeles und New York gekommen bin, habe ich immer versucht, diesen Klang zu erzeugen.
Das war eine Revolution in meinem Ohr – und diesen Klang habe ich nie vergessen.
BR-KLASSIK: Brahms selber hat ja im Wiener Musikverein Konzerte gehört und erlebt, das heißt, es ist Musik, die eigentlich für diesen Raum gedacht ist.
Zubin Mehta: Natürlich. Ich habe sogar einen alten Orchesterwart kennengelernt, der damals als junges Kind fast noch Brahms die Partituren auf das Pult gelegt hat. Das hat mir natürlich nicht wirklich geholfen – mich aber doch sehr angeregt! Und natürlich, immer die Wiener Philharmoniker bei den Proben unter Böhm oder Karajan zu hören.
BR-KLASSIK: Wann war das?
Zubin Mehta: Mitte der 50er-Jahre. Ich bin 1954 nach Wien gekommen. Ende der 50er war ich dann schon Chef in Montreal und habe dort natürlich gleich in meiner ersten Saison alle Brahms-Symphonien programmiert; genauso später in Los Angeles. Und irgendwann habe ich dann alle Symphonien auch aufgenommen. Aber interpretiert habe ich Brahms immer mit dem Klang der Wiener Philharmoniker in meinen Ohren.
BR-KLASSIK: Kann man diesen Klang hier in der Isarphilharmonie erzeugen, mit den Münchner Philharmonikern?
Zubin Mehta: Die haben fast dieselbe Tradition. Auch die Akustik in diesem Saal ist sehr gut. Und mit den zwei Solisten Lisa Batiashvili und Gautier Capuçon zu arbeiten ist eine Freude.
BR-KLASSIK: Wenn man so lange diese Musik dirigiert und jetzt noch mal ganz viele Werke von Brahms – alle Symphonien, die zwei Klavierkonzerte, das Doppelkonzert, das Violinkonzert und auch das Requiem: Entdecken Sie noch was Neues in der Musik?
Zubin Mehta: Jedes Mal! Brahms spricht mit uns. Wenn man so viele Briefe und auch Biografisches gelesen hat, glaubt man fast, Brahms persönlich zu kennen. Das ist natürlich eine Illusion, aber es hilft zweifellos. Und natürlich hilft es auch, die großen Interpreten und Dirigenten als Student in Wien gehört und erlebt zu haben. Und manchmal habe ich unter denen als Kontrabassist auch im Orchester gespielt.
BR-KLASSIK: Was würden Sie Brahms fragen, wenn Sie sagen, er spricht zu Ihnen? Leider kann man Ihn ja nicht anrufen…
Zubin Mehta: Ich hatte in der Albertina einmal das Autograf seiner Haydn-Variationen in meinen Händen. Bei einigen dieser Variationen hat Brahms seine Tempobezeichnungen geändert. Ich weiß nicht, wie gut er Italienisch gesprochen hat, aber ich würde ihn sehr gerne fragen, was er wirklich mit diesen italienischen Worten meint, die er da benutzt hat.
BR-KLASSIK: Sie machen mittlerweile recht kleine Bewegungen und gucken ganz intensiv. Ich habe den Eindruck, Sie dirigieren sehr intensiv mit den Augen.
Zubin Mehta: In all diesen Jahren war mir der Kontakt mit den Musikern sehr wichtig. Augenkontakt genauso wie persönlicher Kontakt.
Das ist wie die Lava eines Vulkans, die fließt. Und das hält jung!
BR-KLASSIK: Ich habe von zweiten Geigern, die ganz hinten am fünften Pult sitzen, gehört, dass Sie sie plötzlich ganz intensiv anschauen. Und die fühlen sich dann ganz besonders motiviert.
Zubin Mehta: Ich schaue keine einzelnen Musiker absichtlich an. Ich sehe in die ganze Reihe, und da fällt mir jemand auf, der auch mich ansieht – und den dirigiere ich dann ganz plötzlich. Das kommt aber vom Musiker zu mir und zurück: Ich lerne von dir, du lernst von mir. Oder: Du inspirierst mich, ich inspiriere dich. Das ist wie die Lava eines Vulkans, die fließt. Und das hält jung!
BR-KLASSIK: Offensichtlich!
Zubin Mehta: Ja, wir werden immer jünger! Ich werde dieses Jahr 88 und ich freue mich auf meinen 90. Geburtstag.
Sendung: "Allegro" am 9. Januar 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK