Ein paar starke Bilder, ein, zwei saftige Stimmen, ein guter Chor: Aber Mussorgskis fulminante Tableaux aus der russischen Geschichte haben schon mehr gepackt als unter Esa-Pekka Salonen und in der Regie von Simon McBurney. Ein Lückenbüßer der Osterfestspiele vor der Wiederkehr der Berliner Philharmoniker mit Wagners "Ring", der 2026 hier beginnen soll.
Bildquelle: Inés Bacher
Finsternis. Eine bedrohliche Geräuschwolke dringt aus den Lautsprechern im Großen Festspielhaus. Aus dem Dunkel löst sich eine Frau und schreitet auf den noch geschlossenen Eisernen Vorhang zu: Marfa, ahnt man. Auf ihr Geheiß erst geht er hoch. Dahinter: die animierte Videoprojektion eines weiteren Vorhangs, der mit einem historischen Stoffmuster an Farbe gewinnt. Und schließlich ein realer Vorhang, der sanft in Richtung Auditorium weht, wenn er nach hinten und oben zugleich weggezogen wird. Irgendwann hat sich der zarte Beginn von Mussorgskis Vorspiel aus der klanglichen Düsternis herausgelöst, das träumerisch-friedvolle Naturbild der Morgendämmerung über der Moskwa. Und zu diesem musikalischen Idyll werden die ersten Leichen sichtbar, die offenbar noch vom Gemetzel des Vortags hier liegen. Business as usual also im alten Russland.
Ja, so betonen die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst und der Regisseur Simon McBurney, hier muss erst Schleier um Schleier weggezogen werden, bis die Wahrheit zum Vorschein kommt. Und die ist, so war schon Friedrich Nietzsche überzeugt, hässlich. "Die Vergangenheit in der Gegenwart – das ist meine Aufgabe", zitiert eine Projektion schon vor Beginn den Komponisten mit einem Gedanken aus dem Jahr 1872. Damals hat Mussorgski die Arbeit an Libretto und Musik seiner "Chowanschtschina" gerade begonnen – eine Arbeit, die er bei seinem Tod 1881 unvollendet hinterlassen musste: Vor allem Schlussszene und Instrumentierung fehlen. Heute wird das großartige, packende Werk in der Regel in der Instrumentierung durch Dmitri Schostakowitsch aufgeführt, die Schlussszene aber in der Version von Igor Strawinsky.
Szene aus "Chowanschtschina", Salzburger Festspiele April 2025 | Bildquelle: Inés Bacher
"Chowanschtschina", das heißt so viel wie "Die Affäre Chowanskij" – oder vielleicht besser "Die Chowanskij-Sauerei": Nach "Boris Godunow" wählte Mussorgski ein weiteres Sujet aus der russischen Nationalgeschichte, diesmal die blutigen Machtkämpfe der 1680er-Jahre. Durch die relative Schwäche auf dem Zarenthron (Sofia Alexejewna regierte mithilfe ihres Beraters Fürst Golitzyn für ihre noch unmündigen Brüder, die formellen Zaren Iwan V. und Peter I.), erstarkten damals einerseits der brutal-diktatorische Fürst Iwan Chowanskij, der als eine Art Privatarmee die Strelitzen hinter sich hatte, das erste russische Berufsheer, andererseits die sektiererischen Altgläubigen, die unter Leitung ihres Propheten Dosifej eine Theokratie anstrebten.
Bei Mussorgski tritt zum historischen Personal noch Marfa hinzu, eine rätselhafte, zwischen den Welten und Parteien wandelnde Figur. Simon McBurney macht sie zum Dreh- und Angelpunkt eines Abends, der an der Vergangenheit auch die hässliche, brutale Wahrheit der Gegenwart zeigen will, ohne allzu plakative Mittel dafür aufzuwenden. Putin-Anspielungen, Transparente mit der Aufschrift "Make Russia Great Again" oder dergleichen muss man nicht sehen, darf sie aber gerne erkennen. Doch zumindest eine Pointe in Richtung USA leistet sich die Inszenierung: Ein Chowanskij-Adjutant ähnelt mit Mütze und Hörnern dem "QAnon-Schamanen", der 2021 beim Sturm auf das Kapitol in Washington zu zweifelhafter Berühmtheit gelangte und mittlerweile von Trump begnadigt wurde.
Szene aus "Chowanschtschina", Salzburger Festspiele April 2025 | Bildquelle: Inés Bacher
Aber zugleich häufen sich auch Probleme an diesem merkwürdigen Abend: Die Produktion fremdelt an mehreren Ecken und Enden. Und damit ist nicht das Werk gemeint: Die "Chowantschtschina" müsste sich eigentlich hervorragend für Salzburgs Cinemascope-Bühne eignen. Doch der Kasten, den Ringst auf die Bühne gewuchtet hat, mag zwar zu einigen Wandlungen fähig sein, ist aber sehr wahrscheinlich exakt auf die Maße der koproduzierenden Metropolitan Opera abgestimmt: Nur für einzelne Auf- und Abtritte werden die Möglichkeiten im Großen Festspielhaus feigenblattmäßig genützt.
Vor allem ist der Kasten, mobile Wände hin oder her, nach oben offen – und bietet den mehrheitlich nicht allzu groß dimensionierten Stimmen also keinerlei akustische Hilfe. Das erweist sich auch als Hemmschuh der vielen großen Chorszenen, die im Zusammenwirken des Slowakischen Philharmonischen Chors und des Bachchors Salzburg nicht durchwegs so zünden wie gewohnt.
Nur Vitalij Kowaljow können die akustischen Probleme gleichgültig sein: Er verfügt als Iwan Chowanskij über genug vokales Bedrohungspotenzial, um dem Despoten in jeder Sekunde Profil zu verleihen. Kurvt er zunächst mehrfach auf einer Military-Ausgabe des Papamobils einher (freilich ohne kugelsichere Scheiben, das wäre etwas für Weicheier), findet er sein Ende in der Badewanne: erst ertränkt und zur Sicherheit auch noch erschossen von Schaklowityi.
Und diese wichtige Figur bildet leider den großen Schwachpunkt der Besetzung. Denn Daniel Okulitch mag ein gewiss vielversprechender junger Sänger sein – aber an Ausdruckskraft und Persönlichkeit kann er es mit großen Rollenvorgängern (noch) nicht im Entferntesten aufnehmen. Ernüchternd, das McBurney auch diesem Charakter misstraut: Das ist kein ehrlicher Anwalt des Volkes, sondern ein Karrierepolitiker von cleverer Glätte – und ähnelt auch äußerlich ein bisschen Karl-Theodor zu Guttenberg.
Die Tenöre haben es ja nie leicht in diesem Stück: Was Mussorgski ihnen an heldischen Exaltationen abverlangt, kann in der Regel nur von Ferne belkanteske Ansprüche erfüllen. Aber, neben dem eher blassen Golitzyn von Matthew White, der auf einer Art Kommandobrücke residiert, die von oben auf halbe Höhe herabschwebt, steigert sich Thomas Atkins als Andrej Chowanskij vom lästigen Stalker, der beim Shopping Emma (Natalia Tanasii) nachstellt, zu imposanten Phrasen, um dann als Häufchen Elend zu enden, das Marfa wie eine Pietá in Armen hält.
Szene aus "Chowanschtschina", Salzburger Festspiele April 2025 | Bildquelle: Inés Bacher
Ja, das Ende ist stark. Vor allem wegen der Mezzosopranistin Nadeshda Karyazina, die als Marfa erfreulicherweise kein klischeehaft gurgelndes Metalltimbre hören lässt, sondern einen zwar nicht unbedingt samtigen, so doch festen, weitgehend ebenmäßigen Stimmklang: Hier ist eine interessante Sängerdarstellerin zu entdecken. Während der kollektiven Selbstverbrennung der Altgläubigen, die Ain Anger mit aller Knorrigkeit und allen Blessuren eines Sängerlebens als Dosifej glaubwürdig anführt, bleibt sie allein mit Andrej zurück. Und plötzlich stürzen kiloweise Asche oder Erde vom Schnürboden, begleitet von düsterem Dräuen aus den Lautsprechern, das an Naturkatastrophe oder gleich einen Atombombenabwurf denken lässt. Schließlich begräbt Marfa den toten Andrej, von Schmerz und Wut gleichermaßen gebeutelt.
Das Ganze fremdelt aber auch musikalisch. Denn das nüchtern-kalte Ambiente der Bühne findet im Orchestralen sein Pendant. Das Finnische Radio-Symphonieorchester versteht sich auf große Wendigkeit, auch das schwere Blech spricht sofort an, alles tönt professionell glatt. Aber es ist kein Klangkörper, der von Rang und Geschichte her dem Gewandhausorchester (2023) oder dem Orchestra dell’Accademia di Santa Cecilia (2024) vergleichbar wäre. In Nikolaus Bachlers Konzept, das ohnehin von vornherein nur als Übergang zurück zu den Berliner Philharmonikern ersonnen war, die 2026 hier einen neuen „Ring des Nibelungen“ beginnen, sind die Finnen eine seltsame, alles andere als zwingende Wahl, die vor allem die letzte Lücke schließen sollte.
Was musikalisch freilich besonders fehlt, ist russisches Pathos. Dieses liegt einem Dirigenten Esa-Pekka Salonen ganz allgemein eher fern. Ihm ist kühle Sachlichkeit wichtig, ein eleganter Drive, ein sauber gelegtes Mosaik der Töne. Händeringende Emotionen, ein Hineinknien in den Klang: Dergleichen ist seine Sache nicht. Und so hat Salonen auch nicht gestört, dass Gerald McBurney, Bruder des Regisseurs und Komponist, die Aufführung, wie erwähnt, in einen Soundscape-Rahmen gestellt hat, der vor allem im Schlussbild die Leerstellen von Mussorgskis Fragment etwas enervierend mit Waldesrauschen und Vogelgezwitscher füllt.
Das Publikum zeigte sich dennoch schwer beeindruckt.
Sendung: "Allegro" am 14. Februar 2025 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Sonntag, 13.April, 13:22 Uhr
T.S.
Vorbildliche Kritik
Da ich nicht da war, kann ich natürlich nicht die einzelnen ästhetischen Urteile Weidringers überprüfen, möchte aber trotzdem diesen Kritiker loben, der einen weiten Bildungshorizont hat und auch den Mut, zu wertenden Urteilen zu gelangen, die er nachvollziehbar und fair begründet, ohne die notwendereweise subjektive Natur solche Urteile mit einer Pseudo-Apodiktik zu verschleiern. Auch sprachlich ist das alles auf einem hohen Niveau.
Wenn man diese Kritiken Weidringers mit dem vergleicht, was man normalerweise in deutschen Feuilletons als "Kritiken" angeboten bekommt, kann man nur den Hut ziehen.