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Bilanz der Donaueschinger Musiktage 2022 Nieselgrau mit angezogener Handbremse

Meist lohnt sich das alljährliche Regionalbahnpilgern in die südwestdeutsche Pampa. Dann spuckt einen das berühmte Uraufführungsfestival in Donaueschingen beseelt und voll mit neuen Eindrücken wieder aus. Manchmal aber auch nicht. Wie war es dieses Jahr? Am 16. Oktober 2022 gingen die Musiktage zu Ende. BR-KLASSIK zieht für Sie Bilanz.

Donaueschinger Musiktage 2022 | Bildquelle: SWR/Ralf Brunner

Bildquelle: SWR/Ralf Brunner

Neun Konzerte in drei Tagen, 26 Uraufführungen, dazu Klanginstallationen und eine Filmvorführung. Da wird schon das eine oder andere dabei sein, das einem Augen und Ohren weitet. Denke ich mir. Aber nach der tingeligen Zugfahrt muss ich erstmal: was essen. Habe ich erstmal: ein Haar in der Suppe. Dick und schwarz (also definitiv nicht meins). Passiert halt. Doch dieses Haar, es zieht sich wie ein schlechtes Omen durch die kommenden drei Tage.

Lydia Rilling als erste Frau an der Spitze der Donaueschinger Musiktage

Beginnen wir trotzdem mit dem Positiven: Die neue künstlerische Leiterin der Donaueschinger Musiktage heißt Lydia Rilling. Allein das schon eine gute Nachricht, weil mit Rilling zum ersten Mal in der 100-jährigen Geschichte des Festivals eine Frau am Ruder ist. Das eigentlich Positive ist jedoch: Rilling war dieses Jahr elternzeitbedingt nur als Besucherin vor Ort und hat sich von ihrer Kollegin Eva Maria Müller vertreten lassen. Ein gutes Signal für die Sichtbarkeit von Elternschaft, wenn die künstlerische Leiterin des renommiertesten Festivals für zeitgenössische Musik ihre beruflichen Aufgaben kurz nach Amtsantritt zugunsten familiärer Care-Arbeit erstmal ruhen lässt.

Komponistin Agata Zubel schwebte über dem SWR Symphonieorchester

Und klar, es gab auch musikalische Glanzmomente an diesem einigermaßen vernieselten Wochenende: Etwa als die polnische Komponistin und Wahnsinnssängerin Agata Zubel in ihrem Stück "Outside the Realm of Time" als eine Art Hologramm in verschiedenen Rollen und Outfits über dem SWR Symphonieorchester schwebte und wahlweise im schwarzen Lederhemd mit gereckter Faust die Zukunft beschwor oder im bodenlangen Solistinnenkleid trällerig eine ferne Sehnsucht besang. Oder Malte Giesens "stock footage piece 2: type beats", bei dem sich Hiphop-Sounds über klassische Nachkriegsavantgardeklänge schoben. Wummernde type beats und Ensembleklänge, die hervorragend miteinander matchen. Erst recht, wenn das Ensemble Kwadrofonik sie interpretiert.

Komponist und Performer: Artur Zagajewskis

Das polnische Quartett ist eine echte Entdeckung. Zweimal Schlagwerk, zweimal Tasten. Hier brach eine pulsierende Lebendigkeit hervor, kopfnickend zu Synthiesounds und immer auf den Punkt performend, die zwei Männer und zwei Frauen – und manchmal auch noch eine Person mehr: Der polnische Komponist Artur Zagajewskis stand in seinen "Danses Polonaises" gleich selbst mit auf der Bühne, als agitatorisch hüpfender Performer im Trainingsanzug, Parolen polnischer Anti-Pride-Patrioten schmetternd. Und dann: Hannah Kendall. Hannah. Kendall.

Komponistin Hannah Kendall thematisiert das Leid der Afrobevölkerung

In ihrem Stück "shouting forever into the receiver", benannt nach einem Zitat aus dem großartigen ersten Roman von Ocean Vuong, "Auf Erden sind wir kurz grandios", thematisiert die Engländerin das Leid der Afrobevölkerung in der Diaspora. Es ist ein meditatives Stück, in dem sich verschiedene musikalische Texturen übereinanderlegen: aus Walkie Talkies schnarrende Bibeltexte, klassische Ensembleklänge und eine klimperige Musikbox, die Melodien spielt aus der Zeit, in der die Plantagen entstanden sind, auf denen so viele Menschen ausgebeutet worden sind, Melodien von Beethoven, Mozart, Strauss. Glänzend gespielt vom Ensemble Modern unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni Sowieso eine Konstante in Donaueschingen: Wie weltklassegut die Musikerinnen und Musiker allesamt sind, die hier auftreten.

Donaueschingen mit Handbremse

Aber: das Suppenhaar!? Auch wenn die herausgepickten Rosinen etwas anderes vermuten lassen, waren in Donaueschingen schon mal mehr kreative Konzepte zu erleben als in diesem Jahr. Viele der Stücke wirkten musikalisch und konzeptuell handbremsig. Und es wurde durchweg das klassische Aufführungssetting demonstriert: hier Ensemble oder Orchester, da das cis-white-middle-class-Publikum mit seinen vorhersehbaren Reaktionen. Heißt, wenn‘s zu wohlklingend wird, buht man halt und die ganz Überzeugten verlassen den Saal, wie bei Thomas Meadowcrofts "Forever Turnarounds": ein Experiment in Sachen Deep Easy Listening, das sich laut Komponist so anfühlen solle, als spiele "die Tanzband der Avantgarde-Society spät in der Nacht das ewig Gleiche für Verliebte". Eigentlich amüsant, doch über vielen Konzerten lag ein behäbiger Ernst – oder, ins Positive gedreht: eine meditative Ruhe.

Zukunft der Donaueschinger Musiktage: demokratisch und divers

Das ändert sich hoffentlich im nächsten Jahr, wenn Lydia Rilling zum ersten Mal inhaltlich für die Donaueschinger Musiktage verantwortlich sein wird und in das Festival einen roten Faden hineinkuratiert. Einerseits sollen die Musiktage unter ihrer Leitung immer unter einem bestimmten Thema, einer bestimmten Fragestellung stehen. Andererseits möchte sie viele Stücke in kollaborativen Prozessen erarbeiten lassen. Die Musiktage sollen demokratischer und diverser werden. Rilling, die vorher für das rainy days Festival in Luxemburg verantwortlich war, möchte den Szenecharakter der blasigen Veranstaltung aufbrechen und Kooperationen mit anderen Kulturinstitutionen eingehen, damit die Stücke ein breiteres Publikum erreichen und wiederaufgeführt werden.

Viele Stücke über das Vokale

Auch ohne übergeordnetes Thema clustern sich die Stücke bei solch einem Festival oft spontan. Entweder, weil etwas in der Luft liegt, oder, weil kuratorisch doch etwas angeregt wurde. Oder weil man das Stimmige, das Kohärente im großen Ganzen sucht? Auffällig viele der Stücke, manche davon schon Jahre im Voraus in Auftrag gegeben, drehten sich in diesem Jahr jedenfalls um Stimme, Text, das Vokale. Bernhard Langs "Cheap Opera #3 ‚May‘" etwa, in dem der Österreicher den dokumentarischen Text einer an Parkinson Erkrankten vertont hat und das die Neuen Vocalsolisten Stuttgart mit Bassklarinettist Gareth Davis textverständlich und eindringlich umsetzten. Sprechend, flüsternd, singend. Und in Iris ter Schiphorsts "Hyper-Dub" sprach, brummte, sonierte Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow an der Seite des New Yorker Talea Ensembles (unter Leitung der eingesprungenen und überragend souveränen Susanne Blumenthal) einen selbst verfassten Text – willkommene Popkultur.

Donaueschingen - man weiß nie, was man kommt

Die Donaueschinger Musiktage sind ein Uraufführungsfestival, das heißt, man weiß nie, was man bekommt – und bei aller Mäkeligkeit gab es dieses Jahr durchaus viel Gutes zu sehen und zu hören. Trotzdem darf es nächstes Jahr gern wieder bisschen gewagter sein. Und diverser sowieso.

Sendung: "Leporello" am 17. Oktober 2022, um 16.05 Uhr

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