Das traditionsreichste Festival für zeitgenössische Musik war dieses Jahr ein Fest für die Stimme. Weiblich, mit Fokus auf Kollaboration, Klangfläche und Kammermusik.
Bildquelle: SWR/Gerhard Kühne
Was sich seit mehr als hundert Jahren am Rande des Schwarzwalds ein verlängertes Herbstwochenende lang abspielt, verhandelt zwar zeitgenössische, also neueste Musik, ist aber oft relativ erwartbar. Die Donaueschinger Musiktage locken Fans und Eingeweihte, Komponisten, Musikerinnen, Kuratoren, Verlegerinnen und andere mit der Materie Befasste in die Stadt. Zufällig reinstolpern? Nahezu ausgeschlossen. Zu abgelegen, zu "special interest".
Trotzdem gab es in diesem Jahr einige Neuerungen: Zum ersten Mal waren die Musiktage mit einem offen kommunizierten Motto überschrieben: "Collaboration". Ein Wort, in dem das Labor mit drinsteckt, das Donaueschingen sein will. Ein Vorstoß der künstlerischen Leiterin Lydia Rilling, der ersten Frau an der Spitze der Donaueschinger Musiktage in den mehr als hundert Jahren, die es das Festival nun schon gibt.
Kreatives Miteinander: Das Ensemble Ictus bei den Donaueschinger Musiktagen 2023. | Bildquelle: SWR/Christophe Urbain Wie entsteht das, was wir hören, wenn wir im Konzert sitzen? Im Jahr 2023 und zumindest hier in Donaueschingen vermutlich eher nicht so, dass ein Künstlergenie allein in einer Kammer vor sich hindenkt. Sondern gemeinschaftlich, also kollaborativ. In neuen Modellen künstlerischer Zusammenarbeit, improvisierend, experimentierend. Im Gespräch, im Miteinander. Die Idee: Das Festival soll auch für ganz generelle gesellschaftliche Fragen Modell stehen. Die Klimakatastrophe bezieungsweise ihre Verhinderung lässt sich nur gemeinschaftlich angehen. Warum sollte das bei der zeitgenössischen Musik also anders sein, fragt das begleitende Programmbuch. Licht, Bühne, Technik, Akustik, Instrumentenbau, Performance – Konzerte resultieren immer aus einem kreativen Miteinander, und Donaueschingen will das sichtbar(er) machen.
Keiner behauptet, dass es einfacher wird, wenn Hierarchien abgeflacht werden und alle mitreden dürfen. Aber vielleicht: gerechter. Auch wenn Orchestermusikerinnen und -musiker womöglich erst einmal schwimmen, weil sie keine konkreten Angaben, Abläufe, Partituren bekommen. So wie bei Éliane Radiques und Carol Robinsons Occam Océan Cinquanta. Stattdessen sollten sie sich in Aufnahmen von Radigue-Stücken einhören, um die Klangsprache der 91-jährigen französischen Elektropionierin kennenzulernen, die in Donauschingen ihr erstes Werk für Symphonieorchester präsentieren durfte. Und dann: machen, irgendwie, im Miteinander.
Andere Komponistinnen wie Matana Roberts oder Clara Iannotta gaben den Musiker:innen Textfragmente statt Noten an die Hand oder überließen ihnen zumindest die Ausgestaltung konkreter Parts. Diese Art des kollaborativen Arbeitens belebt die Szene nach innen und verschiebt Rollen – bis hin zu den Dirigent:innen, die mal nur Zahlen anzeigen, mal Formen in die Luft wischen oder von ihrem Ensemble mit Beethovens Ode an die Freude und einem imaginären Feuerwerk von der Bühne gesungen werden – weil: überflüssig geworden.
Was sich noch nicht totgelaufen oder besser totgesessen hat, ist das klassische Konzertsetting. Im passiven Geradeaus Richtung Konzertbühne starren. Mit einigen Ausnahmen: Wojtek Blecharz Symphonie No. 3 etwa. Eine performative Installation für 220 kabellose Lautsprecher, an der auch Modedesigner und Künstler Nicolas Navarro Rueda beteiligt war, und die das Publikum dazu einlud herumzulaufen, sich hinzulegen, die Musik auch körperlich zu erleben. Ein, so der Komponist, Gegenentwurf zum hierarchisch und patriarchal organisierten Orchester.
Vom Labor aus entrollt sich bei fast allen Stücken ein Klangteppich in die Turn- und Mehrzweckhallen Donaueschingens hinein. Auch groß besetzte Stücke sind oft kammermusikalisch gedacht. Es wird gehaucht und gestreichelt. Meditativ bis düstere Raschelklänge verleihen einigen Stücken wie Matana Roberts Elegy for Tyre: "Welcome to the world through my eyes" geradezu etwas Requiemhaftes.
Deutschlanddebüt in Donaueschingen: Das Percussion-Klavier-Quartett Yarn/Wire aus New York | Bildquelle: SWR/Yarn&Wire Das SWR Symphonieorchester unter Baldur Brönnimann, Carol Robinson und Ingo Metzmacher ist gewohnt wandlungsfähig, auf den Punkt. Und neben den großen Playern sind dieses Jahr einige Ensembles zum ersten Mal zu Gast in Donaueschingen. Das Percussion-Klavier-Quartett Yarn/Wire aus New York gab in zwei Konzerten sein Deutschlanddebüt, und Improvisationsmusikerinnen aus Norwegen, die sich Pinquins nennen, performten zusammen mit dem SWR Experimentalstudio, zwei Sängerinnen (eine davon Komponistin Jessie Marino) und einer Tennisspielerin auf der Bühne. Mit den Murder Ballads in einem komplett dunklen Saal, der dem Augenlicht nur den Nebel freigab, brachten sie ein Stück auf die Bühne, das Klanglandschaften mit Volksballaden aus den Appalachen und hymnische Südstaatenlieder verbindet.
Thematisch bildet das Programm das Nebeneinander, die Ambivalenzen ab, die unser Dasein bestimmen: von Geschichten über Gewalt, Selbstmord und Tod über die Klimakatastrophe, sich verändernde Körper oder rassistische Polizeigewalt bis hin zu unterhaltsamer Popmusik und zeitgenössischer Malerei.
Ein Stück, in dem ganz viel von allem zusammenkommt, ist das agitatorische, tausend Bezüge herstellende Werk Was wird hier eigentlich gespielt? von Komponistin Iris ter Schiphorst und Schriftstellerin Felicitas Hoppe. "Ob es heller wird, wenn sich die Töne in Wörter verwandeln?", fragt eine der zwei Stimmen, begleitet vom Ensemble Ascolta unter Catherine Larsen-Maguire – und deutet damit etwas an, was auf viele Stücke dieses Festivaljahrgangs zutrifft: Das gesprochene oder gesungene Wort, das Lied, die Botschaft ist wichtig. "Wer jetzt nicht singt, verklingt", proklamiert eine Stimme in Was wird hier eigentlich gespielt? passenderweise. In diesem Stück, das hoffentlich den Weg auf die Spielpläne findet.
Ach ja, wo wir gerade bei Neuerungen sind: Noch nie waren so viele Stücke von und mit Frauen bei den Donaueschinger Musiktagen zu hören. Und, Überraschung: Man merkt es gar nicht! Also jedenfalls nicht hinsichtlich ästhetisch-künstlerischer Qualitäten. Ungefähr 70 Prozent der 23 Uraufführungen waren von Komponistinnen, die jüngste 25, die älteste 91 Jahre alt. Und fast genauso viele der eingeladenen Komponistinnen und Komponisten waren zum ersten Mal überhaupt in Donaueschingen präsent. Es war also auch ein Festival der Newbies. Da stehen dann also vier oder auch mal fünf Frauen gemeinsam auf der Bühne, als Komponistin-Sprecherin-Dirigentin-Sängerin-Konglomerat, und werden bejubelt. Endlich. Oder, um es mit Felicitas Hoppe und Iris ter Schiporst zu sagen, die ihr Stück so enden lassen und dem Festival damit ungewollt ein heimliches zweites Motto geben: "Geht doch!"
Sendung: "Leporello" am 23. Oktober 2023 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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