Mozart, Brahms, Beethoven – weiße Europäer, die mit anderen ihrer Art das Meisterfach der Klassik seit Jahrhunderten besetzen. Die Musikwissenschaftlerin Natasha Loges will diesen eurozentristischen Blick auf Musik verändern. Im Interview erklärt sie, was dafür passieren muss, und warum das Klavier gleichzeitig ein demokratisches und ein kolonialistisches Instrument ist.
Bildquelle: Hochschule für Musik Freiburg
BR-KLASSIK: Natasha Loges, Sie kommen aus einer indischen Familie, leben in Großbritannien und lehren in Deutschland. Das heißt, Sie sind sozusagen multikulturell in sich. Wie war Ihre eigene musikalische Sozialisation?
Natasha Loges: Ich bin am Arabischen Golf aufgewachsen, mit indischen Einwanderereltern. Sie kamen aus ziemlich armen Verhältnissen, hörten gern Popmusik, Bollywood, Easy Listening, auch Musikstars wie Glenn Miller zum Beispiel. Sie waren sehr ehrgeizig, was uns Kinder betraf. Also gingen wir auf eine englische Schule, und ich hatte Klavier- und Klarinettenunterricht. Als der Irak 1990 in Kuwait einmarschierte, wurde ich nach Indien evakuiert und kam auf ein Internat in den südindischen Bergen. Dort durfte ich weiterhin viel Musik durch Aufführungen oder Kassetten kennen lernen. Heute bin ich Brahms-Forscherin. Ich habe vier, fünf Bücher über Brahms geschrieben und herausgegeben. Aber trotzdem merke ich: Das ist nicht meine Welt. Es ist immer ein Doppelleben. Man denkt: Ja, ich gehöre hierhin, und andererseits sieht man immer alles wie durch einen Vorhang.
BR-KLASSIK: Sie sind Professorin für Musikwissenschaft an der Musikhochschule in Freiburg. Wo sehen Sie postkoloniale Strukturen in der Musiklehre?
Natasha Loges: Das postkoloniale Denken finden wir überall in der Welt, nicht nur in der klassischen Musik und nicht nur an einer Musikhochschule. Bei dem Wort "kolonial" denkt man: "Ach ja, das war die Geschichte, damals hatten wir die Kolonien. Das ist ein Problem aus der Vergangenheit. Ich persönlich habe nichts damit zu tun." Das sehe ich völlig anders! Das sind Probleme unserer heutigen Gesellschaft. Ich betrachte das als Angst, als Angst vor dem Unbekannten, Angst vor Veränderung.
Wenn ich etwas höre, völlig egal, ob Beethoven oder iranische Volksmusik, die Frage ist: Was höre ich genau?
Wir reden von Meistern. Wir reden von Meisterwerken. Das ist eine sehr eingeprägte Sprache. Ich versuche, das selber zu vermeiden. Wenn ich etwas höre – es ist mir inzwischen völlig egal, ob Beethoven oder iranische Volksmusik – die Frage ist: Was höre ich genau?
BR-KLASSIK: Wie eurozentristisch ist jetzt zum Beispiel die Ausbildung an der Musikhochschule in Freiburg geprägt? Haben Sie das Gefühl, es ist schon offen? Oder ist da schon noch viel zu tun?
Demokratisch oder kolonial? Ein Pianist spielt in einer Kriche im indischen Kalkutta. | Bildquelle: picture alliance / NurPhoto | Debajyoti Chakraborty Natasha Loges: Ich finde, dass es noch viel, viel zu tun gibt, aber das liegt an historischen Machtstrukturen, die sehr schwer zu verändern sind. Ich habe im letzten Semester eine Vorlesung über das globale Kunstlied gehalten. Denn Klavier mit Gesang, das gibt es bei den Uiguren in China und in Indonesien, in Südamerika und Afrika. Man findet aber die Partituren nicht. Sie sind ja noch nicht veröffentlicht. Man findet keine Aufnahmen, weil wenige Leute diese Musik aufgenommen haben. Man muss sozusagen selber die Bausteine schaffen. Wenn ich meine Brahms-Vorlesungen mache, liegt das alles hinter mir in meinem Bücherregal. Alles, was ich brauche, finde ich dort oder im Internet. Das ist mühelos.
BR-KLASSIK: Warum gibt es die Gattung Kunstlied auch außerhalb Europas?
Natasha Loges: Viele Leute haben ja in Europa studiert. Wenn man nur an Leipzig denkt: Sehr viele Komponisten haben im späten 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert dort studiert. Für Stimme und Klavier zu komponieren ist günstig und praktisch. Es gibt überall in der Welt Klaviere, das kann man positiv oder negativ betrachten. Ich war meine ganze Kindheit hindurch nirgends, wo es kein Klavier gab. Das ist eine Demokratisierung eines Instrumentes und gleichzeitig ein Zeichen von kolonialer Machtausübung. Aber das Klavier ist auch mein Instrument, meine musikalische Stimme. Das möchte ich nicht aufgeben und sagen: Ich bin Inderin. Ich muss jetzt irgendein indisches Instrument spielen. Das wäre unecht.
BR-KLASSIK: Was gibt es für Bestrebungen an der Freiburger Musikhochschule, außer dass Sie dort berufen worden sind? Was wird noch getan, um solche Machtstrukturen aufzubrechen, um das Musikleben aktiv zu diversifizieren?
Natasha Loges: Ich bin ganz neu an der Hochschule. Der Erfahrung an meiner alten Hochschule nach kann man das sowohl top-down als auch bottom-up machen. Und die erfolgreichere Variante ist immer bottom-up, das heißt Gespräche mit Menschen unter vier Augen, die dann sagen: Ja, okay, das möchte ich lehren, das möchte ich lernen und spielen.
Die klassische Musik ist wie eine Religion. Leute fühlen sich angegriffen, wenn man sagt: Wollen wir eine andere Musik haben?
BR-KLASSIK: Wie war das in London? Am Royal College of Music?
Natasha Loges: Das war manchmal sehr schwer, weil die klassische Musik wie eine Religion ist. Leute fühlen sich angegriffen, wenn man sagt: Wollen wir eine andere Musik haben? Hören wir überhaupt die Musik von Frauen oder von People of Color oder einer anderen unterrepräsentierten Gruppe? Es gab eine Studie: Letztes Jahr wurden 113 Orchester untersucht. Mehr als 90 Prozent der Werke, die sie gespielt haben, waren von weißen Männern komponiert. Wenn ich sowas lese, dann denke ich: Vielleicht muss eine ganze Generation aussterben. Das ist brutal, wenn ich das sage.
Das Chineke! Orchestra zeigt mehr Vielfalt in der klassischen Musik. Hier gehts zum Artikel.
Das Chineke! Orchester, in dem nur PoC-Musikerinnen und Musiker spielen. | Bildquelle: Eric Richmond Aber andererseits weiß ich ja, was ich selber mache. Zum Beispiel im Radio als Rezensentin für die BBC, für Musikmagazine und auch als Musikvermittlerin für Konzerthäuser. Da habe ich eine Stimme: Ich muss nicht Teil des Problems sein, ich kann auch Teil einer Lösung sein. Nicht durch Wut, sondern durch Enthusiasmus. Es gibt zum Beispiel ein Problem mit der zeitgenössischen Musik. Wir sind irgendwie immer in einem Museum von Musik, aber wir müssen die Musik für unsere Welt hören, müssen damit klarkommen können. Ich würde mir eine musikalische Welt wünschen, in der jeder einen Platz für sich finden kann.
BR-KLASSIK: Braucht es aus Ihrer Sicht eine Quote, damit nicht mehr 90 Prozent der gespielten Werke von weißen Männern stammen?
Natasha Loges: Ich bin für Quoten. Aber ich finde, wir und alle Verantwortlichen – das heißt Konzertveranstalter*innen, Professor*innen, Musiker*innen – müssen das Quoten-Bewusstsein in sich selbst tragen. Ich würde nie mehr ein Programm gestalten, auf dem nur tote weiße Männer stehen. Das ist für mich inzwischen unmöglich, weil mir immer der Gedanke kommt: 'Ach ja, aber sie hat was Interessantes komponiert und der aus diesem Land hat was Interessantes komponiert. Das passiert ganz automatisch.' Und noch etwas: Ich möchte Menschen so behandeln, wie ich selbst auch behandelt werden möchte. Ich würde selber nicht glücklich sein, wenn jemand mir sagt: 'Das müssen Sie machen und das nicht' und dazu noch der erhobene Zeigefinger. Das ist furchtbar. Viel besser ist es, wenn man durch Gespräche und positive Erfahrungen überzeugt – nach dem Motto: 'Oh wow, ich habe letztes Jahr nur Beethoven gehört. Vielleicht kann ich noch ein bisschen googeln und neue Erfahrungen suchen?' Eine Quote ist auch aus einem anderen Grund problematisch. Wenn ich an Frauen denke, super. Wenn ich an People of Color denke, super. Und was ist es dann mit den Leuten, die behindert sind oder die andere Charakteristiken, andere Identitäten, Identifikationspunkte haben? Der Weg zur Diversifizierung ist lang.
Sendung: "Allegro" am 7. März ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (6)
Donnerstag, 09.März, 20:51 Uhr
Tlange
Tote weiße Männer
Wer beim Hören (oder Spielen) guter Musik an Quoten denkt, hat von Musik nichts verstanden. Der Komponist verschwindet hinter dem Werk und spielt keine Rolle mehr. Nicht „tote weiße Männer“ stehen auf dem Programm, sondern lediglich deren „Meisterwerke“.
Donnerstag, 09.März, 17:16 Uhr
Bernadette
Gibt es keine anderen Themen?
Gibt es im Bereich der klassischen Musik nichts wichtigeres als so ein Geschwurbel? Was Frau Loges da erzählt macht für mich (Frau Mitte 30) überhaupt keinen Sinn.
Was will sie uns damit sagen???
Es gäbe so viele lohnendere Themen für BR Klassik ...
Mittwoch, 08.März, 18:39 Uhr
Wilfried Schneider
"Eurozentrismus"
Ach, Frau Natasha Loges, irgendwie sind Sie schon etwas seltsam. Nun ja, dass die bösen alten weißen Männer, ob tot oder lebendig, für das Elend dieser Welt verantwortlich sind, habe ich inzwischen begriffen. Man sollte sie einfach ganz schnell abschaffen (die bösen alten weißen Männer und deren Hinterlassenschaften, nicht die Welt). Aber dann: ich habe auch gelernt, dass "kulturelle Aneignung" zutiefst rassistisch ist. Das führt naturgemäß dazu, dass ich etliche Passagen dieses Interviews als inkonsequent ansehe. Sie sollten sich entscheiden: entweder - oder! Und dann: besonders in der Musik führt eine Quotenregelung bis auf wenige Ausnahmen zu einem Qualitätsverlust, auch wenn so mancher Ideologe dafür kein Gehör hat. Das gilt sowohl für eine Weiblein-- als auch für eine Männleinquote. Übrigens: da ich die 80 überschritten habe, werde ich zur Freude von Frau Loges bald zu den Ausgestorbenen gehören. Leider wird dann bei den Musica-Viva-Konzerten wieder ein Platz frei bleiben.
Dienstag, 07.März, 18:52 Uhr
euphrosine
verstehe bloß bahnhof
Vielleicht habe ich ja Verständnisprobleme, weil ich noch nicht ausgestorben bin (was irgendwie überfällig ist, falls ich das richtig verstehe, aber sicher in ich mir nicht.)
"Ich war meine ganze Kindheit hindurch nirgends, wo es kein Klavier gab. Das ist eine Demokratisierung eines Instrumentes und gleichzeitig ein Zeichen von kolonialer Machtausübung." Laut Natasha Loges ist es also ein Zeichen von Demokratisierung (von wem/was bloß?), dass sie in ihrer Kindheit nirgendwo war, wo es ein Klavier gab??
Und dass sie dauernd über Brahms forscht, obwohl das doch so wohlfeil ist und sie sich damit eher fremd fühlt... ja - was um Himmels willen kann der geneigte Leser dafür? Wie wär´s, wenn sie sich konsequenterweise was Lohnenderes suchte? Oder ist das zu postkolonial gedacht? "Echt jetzt...."!
Dienstag, 07.März, 17:50 Uhr
Weltbürger
Weil man in Europa ist
Auch der Artikel ist eurozentristisch. Ich komme aus einem asiatischen Land, und die Musikausbildung dort - auch die klassische Musikausbildung - sieht dort ein wenig anders aus als in Europa.
Aber warum sollte eine Musikausbildung in Europa nicht eurozentristisch sein? Deshalb studiert man doch in Europa, weil man europäische Musik in Europa studieren möchte. Wenn man chinesische Musik studieren möchte, geht man besser für ein Jahr auf Austausch nach China.
Ich finde, diese Seite der Globalisierung sollte man auch thematisieren - warum erwartet man heutzutage, dass man alles auf einer Uni in einer Stadt studieren kann? Warum muss eine Uni alles bieten? Man kann auch selber raus in die Welt gehen.
Dienstag, 07.März, 16:09 Uhr
Thomas
Artikel Loges
Welches "Meisterfach der Klassik" sollen Brahms, Beethoven etc. mit "anderen ihrer Art besetzt" haben? Sie haben es geschaffen, wie so vieles, daß von den bösen weißen alten Männern kommt.
Aber das Publikum, daß so etwas zu schätzen weiß soll ja nach Meinung von Frau Loges möglichst bald aussterben.
Sie bezeichnet ihre Aussagen selbst als brutal. Das sind sie in der tat, dazu aber noch dumm, hasserfüllt und rassistisch.
Willkommen in der schönen neuen Welt der unbegrenzten diversity.