Kein Schiff, keine Planke, kein Meer: Michael Thalheimer zeigt den "Fliegenden Holländer" in Hamburg als abstrakten Psychothriller. Das funktioniert über weite Strecken gut, auch wegen einem großartigen Ensemble und Chor, der zusätzlich vom Opernchor Kyiv unterstützt wird.
Bildquelle: Hans Jorg Michel / Staatsoper Hamburg
Das ist schon wirklich ein bisschen gruselig, wenn der bärtige, zynische, verfluchte Holländer mit seiner Zombie-Mannschaft auf die Bühne kommt. Thomas Johannes Mayer, der die Titelrolle zuletzt auch in Bayreuth gesungen hat, singt und spielt ihn wunderbar düster. "Diese unheimliche Stimmung hat sich gut transportiert, obwohl es auf so eine abstrakte Ebene gebracht war", erklärt ein Herr aus dem Publikum.
Abstrakt ist es: Auf der Bühne gibt es keine Kogge, nicht mal eine Planke ist in Sicht. Stattdessen hängen hunderte Fäden wie Harfensaiten gespannt von der Decke bis zum Boden. Und in diesem Fädenlabyrinth verlieren sich die Figuren. Sie verheddern sich, verstecken sich und hängen drin wie Marionetten. "Die mussten sich quasi immer durch die Fäden wühlen, das wirkte sehr beschwerlich, wie im wirklichen Leben", so der Eindruck im Publikum.
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Bildquelle: Hans Jorg Michel / Staatsoper Hamburg
Die ansonsten leere Bühne von Olaf Altmann mit den Fäden und den raffinierten Lichteffekten ist für dieses Psycho-Kammerspiel genau richtig. "Kein Chi-Chi, keine Schiffe, die Inszenierung fand ich super", so eine Meinung aus dem Publikum. Doch manches blieb auch unverständlich: "Wo ich meine Schwierigkeiten hatte, waren die Müllsäcke. Warum musste Senta aus den Müllsäcken kommen?" Denn lange steckt Senta während der Ouvertüre in einem schwarzen Plastiksack fest und später peitscht auch die Zombiemannschaft die raschelnden Beutel in einer Art Abfalltüten-Choreografie im Takt. Plötzlich befindet man sich nach der Vorstellung mittendrin in einer Mülltüten-Exegese. "Der Müllbeutel, das ist die Depression der Senta, wenn sie sich daraus befreit. Später kann sie das nicht mehr, da bringt sie sich damit um", erklärt sich das eine Zuschauerin.
Jennifer Holloway als Senta. | Bildquelle: Hans Jorg Michel / Staatsoper Hamburg Die Stimmen an diesem Abend sind wunderbar. Jennifer Holloway, die zum ersten Mal die dem fliegenden Holländer verfallene Senta sinkt, brilliert nicht nur in ihrer dramatischen Ballade. Der Tenor Benjamin Bruns als Eric bringt noch die Trommelfelle im vierten Rang zum Klingen. Publikumsliebling ist aber der Opernchor. Die Sängerinnen und Sänger leuchten sich wie bei einer Gruselgeschichte am Lagerfeuer mit Taschenlampen ins Gesicht, als die beiden Schiffsbesatzungen gegeneinander singen. Es ist Testosteron in Tönen, als sich die Zombie Mannschaft durchsetzt.
Großer Jubel am Ende für das Ensemble und den Staatsopernchor, verstärkt vom Opernchor Kyiv. Für das Regieteam um Michael Thalheimer gibt es leidenschaftliches Buh und enthusiastisches Bravo im Widerstreit. Generalmusikdirektor Kent Nagano hat auch einige Buhrufe abbekommen. Sicher hätte man noch mehr Spannung, noch mehr Psychodrama in die Musik legen können. Auf der Stuhlkante hat man tatsächlich nicht immer gesessen, aber mit diesem starken Ensemble entsteht dennoch oft ein herrlich schauriger Sog. Dieser entschlackte, vom Kitsch befreite und ausgerechnet in Hamburg schifflose Holländer hat Psychothriller-Potenzial.
Sendung: "Allegro" am 24. Oktober 2022, ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (3)
Mittwoch, 26.Oktober, 09:41 Uhr
I. Voigt
Opernchor Kyiv
Opernchor Kyiv? Darüber hätte ich gern mehr erfahren
Dienstag, 25.Oktober, 11:03 Uhr
David
Viel Rhetorik, wenig Inhalt
Sinkt Senta oder singt sie? Wie klingt "Testosteron in Tönen"? Was bedeutet "der Tenor bringt Trommelfelle zum Klingen"? Und hat der Autor auch eine eigene Meinung, oder genügen Gedankenfetzen aus dem Publikum?
Montag, 24.Oktober, 12:36 Uhr
Wolfgang
Eine neue Kritikermasche
Bei der zweiten zitierten angeblichen Publikumsinterpretation (bei der gegenwärtigen journalistischen "Ethik" könnten diese auch frei erfunden sein) fängt man an, sich zu wundern, doch das war erst der Anfang. Ingesamt sechs (!) Mal bemüht der Schreiber das Publikum, um pseudo-authentische "Soundbites" abzuliefern. Seine eigene Meinung zum Dargebotenen bleibt schleierhaft.
Ansonsten scheint die Inszenierung mal wieder der übliche Trash-"Ästhetik" des sogenannten "Regie-Theaters" zu huldigen. Wie unkreativ kann man sein? Man sollte dazu übergehen, die Regisseure in Müllbeutel zu bezahlen. So zwei schwarze große Beutel scheint sich der Regisseur in Hamburg verdient zu haben, alles darüber hinaus wäre Diebstahl.