BR-KLASSIK

Inhalt

Komponist Heiner Goebbels wird 70 Das überraschende Resultat zählt

Heiner Goebbels ist ein weltweit gefeierter Komponist. Dabei hat der studierte Soziologe die Neue Musik erst kennengelernt, als er selbst schon zur Szene dazugerechnet wurde. Davor tauchte er ein in die bildende Kunst, klassische und Rockmusik. Eine wilde Mischung, und wilde 70 Jahre.

Heiner Goebbels | Bildquelle: picture alliance / dpa | Bernd Thissen

Bildquelle: picture alliance / dpa | Bernd Thissen

Musiktheater – ein wabbeliger Begriff, der als Überschrift normalerweise über folgenden vier Genres steht: Oper, Operette, Singspiel und Musical. Aber fehlt da nicht etwas? Eine naheliegende Frage, wenn man sich das anschaut, was Heiner Goebbels auf die Bühne bringt. Es hat keinen Namen, es braucht auch keinen. Und am besten beschreibt der Komponist selbst, was er da macht – und wie er das macht.

"Ich muss nicht unbedingt etwas erfinden, sondern ich muss einfach genau hinschauen. Das ist etwas, was meine Theater- und kompositorische Arbeit am besten charakterisiert: Dass ich nicht mit einer Vision antrete oder mit einem festen Konzept, sondern dass ich andersherum arbeite. Ich arbeite eher mit einer Frage, einer Option, einer Aufgabenstellung. Und bin dann von dem Resultat mindestens genauso überrascht wie die Mitwirkenden."

Maßgeblicher Einfluss durch Heiner Müller

Dramatiker Heiner Müller | Bildquelle: picture-alliance / dpa | dpa Zusammen mit Heiner Müller erhält Heiner Goebbels 1986 den Hörspielpreis der Kriegsblinden für das Stück "Die Befreiung Des Prometheus". | Bildquelle: picture-alliance / dpa | dpa Mitte der 1970er-Jahre tritt Heiner Goebbels noch mit dem "Sogenannten Linksradikalen Blasorchester" bei Demos und Straßenkonzerten auf und arbeitet sich im Duo mit dem Saxophonisten Alfred Harth an Hanns Eisler und Free Jazz ab. In den 80ern spielt er dann in der international besetzten Artrockband Cassiber. Er produziert preisgekrönte Hörspiele, im Zwischenraum zwischen Klang und Sprache. Und Ende der 80er-Jahre bringt er schließlich sein erstes szenisches Konzert auf die Bühne: "Der Mann im Fahrstuhl". Zweisprachig vorgetragen nach einem Text von Heiner Müller.

Immer wieder: Heiner Müller. Der Schriftsteller spielt in Goebbels' Arbeit eine wichtige Rolle. Auch andere Texte dienen ihm als Ausgangspunkt für seine Ideen: solche von Elias Canetti oder Gertrud Stein zum Beispiel. Seit er komponiert, sucht er nach neuen Verbindungen zwischen Literatur und Musik. Und, wie gesagt, immer wieder Heiner Müller.

Der Prozess des Entstehens muss offen bleiben

Heiner Goebbels ist jemand, der sich unbedingt überraschen lassen möchte, auch und vielleicht sogar am meisten von sich selbst. Der Komponist und Soziologe improvisiert gern. Partituren – für viele seiner Kollegen eine heilige Schrift – fertigt er entweder gar nicht an oder erst hinterher. Weil sich im Prozess ja noch so viel tut und alle Beteiligten sich einbringen sollen und dürfen mit ihren Materialien und Ideen. Das, was er auf die Bühne bringen möchte, ist ein überraschendes Musiktheater, eines, das einem neue Einsichten bringt, das einen Fremdheit erfahren lässt, zum Beispiel, ganz banal, über eine fremde Sprache.

"Ich glaube, dass es zu dem nötigen Respekt gehört, den man gegenüber dem Fremden aufbringen sollte, ihm auch zuzuhören, wenn man ihn nicht versteht." Weil, so Goebbels, er nicht davon ausgehe, dass wir alle dieselben sind, sondern davon, dass wir alle sehr, sehr unterschiedlich sind. "Und dass es gerade die Anerkennung der Differenz ist, die so etwas wie eine politische Qualität ausmacht und nicht dieses 'Wir verstehen uns alle so prächtig'.“

Heiner Goebbels: politischer Geschichtenerzähler

Heiner Goebbels wünscht sich mehr fremde Sprachen auch in den Medien, mehr Fremdheit auf den Opern- und Theaterbühnen. Was ihn interessiert, ist der nicht verständliche Rest eines Kunstwerkes. Was sich nur im Jargon der Neuen Musik aufhält, interessiert ihn nicht. Fragen, die er bereits beantworten kann, interessieren ihn nicht. Er sucht nach den Dingen, die sich nicht oder noch nicht aufschließen lassen. Man kann seine Arbeiten wie Installationen anschauen, wie Theaterstücke oder wie Musikwerke. Alles ist möglich. Als Soziologe ist ihm der gesellschaftliche Bezug seiner Kunst sowieso viel wichtiger. Und politisch ist er, auch wenn die Zeit des "Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters" lang zurückliegt, immer noch.

Ich glaube, dass der Zuschauer nicht als pauschale Größe, sondern als individueller Kopf in meinen Arbeiten einen Raum hat.
Heiner Goebbels

"Wir haben eigentlich immer versucht, politische Kriterien, zum Beispiel der Sponti-Bewegung, auf das Musikmachen zu übertragen", sagt Goebbels. Also mit Politik Musik zu machen und nicht mit Musik Politik zu machen. Goebbels hofft, dass man aus seinen Arbeiten herauslesen kann, wie er mit seinem Team umgeht: "Man sieht ja einer Produktion an, ob sie von einer sehr dominanten, alle anderen Stimmen ausschließenden Arbeitsweise ausgeht. Und bei mir ist es anders, man sieht und hört auch die Stimmen derjenigen, mit denen ich arbeite. Und ich glaube, dass der Zuschauer auch nicht als pauschale Größe, sondern als individueller Kopf in meinen Arbeiten einen Raum hat."

Heiner Goebbels hat die Gabe mit einer Geschichte zugleich viele Geschichten zu erzählen. Geschichten, die man beim Hören, beim Sehen selber spinnt, in denen Slapstick genauso Platz hat wie komplexe philosophische Abhandlungen. Geschichten, in denen wir irrgärtnernd herumsuchen können.

Sendung: "Allegro" am 17. August 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (0)

Kommentieren ist nicht mehr möglich.
Zu diesem Inhalt gibt es noch keine Kommentare.

    AV-Player