Eines der besten Jazzfestivals mindestens Deutschlands gibt es in Münster in Westfalen. Jetzt waren dort am ersten Wochenende des neuen Jahrs erfrischende musikalische Wechselbäder zu erleben - unter anderem mit Eva Klesse, Aki Takase, Luise Volkmann, Matt Carmichael und Paal Nilssen-Love. Ein Festival-Programm als große Komposition.
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Am Ende gab’s Töne zum Schwelgen. Der schwedische Musiker Tobias Wiklund - ein freundlicher Rübezahl mit wallendem Bart und Haupthaar - ließ ein Instrument ertönen, das einst Louis Armstrong in seinen frühen Jahren spielte: das Kornett, das beinahe so aussieht und klingt wie eine Trompete, aber keine ist. Wiklund lässt das Instrument so klingen, dass fast die Illusion entsteht, es spreche zu einem. Melodien wirken bei ihm wie lebendige Erzählungen, es gibt darin nachdrücklich Betontes und leise beiseite Gesprochenes, es gibt Lächelnd-Scherzhaftes und mürrisch Gegrummeltes - und jeder Moment lädt zum gespannten Lauschen ein. Wiklund ist ein Meister des Modellierens von Tönen, die er immer wieder auch mit einem Dämpfer verfremdet, um sie genüsslich growlen zu lassen. Seine Band stand am Ende eines dreitägigen Festival-Marathons, und Wiklund drückte dann dem Publikum gegenüber auch sein Erstaunen aus: Was für ein farbenreiches Programm man da erleben könne, so viel unterschiedliche Musik! Solch ein Festivalprogramm drücke eigentlich das "Wesen der Demokratie" aus.
Gut gesprochen, Kornettist! Es lebe der musikalische Unterschied - denn er spiegelt auch die Unterschiede in einer Gesellschaft wider. Das seit 1979 existierende Jazzfestival in Münster in Westfalen ist seit längerem ein Festival mit Vorbild-Charakter, weil es anspruchsvolle Vielfalt feiert und auch abgebrühten Fachleuten immer wieder etwas Neues bietet. Der Programmgestalter Fritz Schmücker, seit langem der Kopf dieses von der Stadt veranstalteten Festivals, nennt sein Konzept augenzwinkernd "die Ästhetik der Kontrast" und spricht davon, dass bei ihm das "Who is Who des unbekannten Jazz" zu erleben sei. Prinzip: Keine Pop-Stars des Jazz, aber anerkannte und noch zu entdeckende Spitzenkönner der aktuellen internationalen Szene.
Pianist Fergus McCreadie und Tenorsaxophonist Matt Carmichael beim Jazzfestival in Münster 2023 | Bildquelle: Ansgar Bolle Auch nach den Jahren der Pandemie-bedingten Ausfälle war dieses Festival, das vor allem im großen Haus des städtischen Theaters (900 Plätze) stattfindet, ein voller Publikums-Erfolg: alles ausverkauft bis auf ein Familienkonzert am Sonntagvormittag. Und es gab Deutschland-Premieren, wie etwa den Duo-Auftritt der beiden jungen Schotten Matt Carmichael (Tenorsaxophon) und Fergus McCreadie (Klavier), 23 und 25 Jahre alt und gerade dabei, international bekannt zu werden. Sie ließen Melodien kreisen, tanzen und sich überschlagen - und Landschafts-Assoziationen voller grasiger Hügel entstehen. Lauter Sound-Idyllen, aber sehr gekonnte, mit geschickten kleinen Abschrägungen zwischendurch.
Vom beschaulichen Hochland direkt ins wild gemischte musikalische Abenteuer mit expressivem Gesang und kantig kombinierten Sounds und Geräuschen: Die Saxophonistin Luise Volkmann führte mit ihrem 13-köpfigen Ensemble Été Large kunstvoll-knallig ins Schräge. Luise Volkmann, geboren 1992, ist ein besonders vielfältiges Talent, nicht nur als Instrumentalistin, sondern auch als Komponistin und Texterin. Bei diesem Festival war sie als aktuelle Trägerin des Westfalen-Jazzpreises mehrmals zu erleben. In ihrem großen Ensemble huldigte sie der Musik der 68er-Generation, der ihre Eltern entstammen. Aber nicht mit platten Zitaten, sondern mit einem Sound, der wie Zappa-Eskapaden und Protestrock in einem zeitgenössisch-jazzigen, liebevoll aufgestellten Zerrspiegel erscheint.
Das Trio "3 Grams" mit Sängerin Casey Moir, Altsaxophonistin Luise Volkmann und Sänger Michael Schiefel beim Jazzfestival in Münster 2023 | Bildquelle: Ansgar Bolle Rockende Gitarre, süffige Keyboards, kreischende Saxophone, Cello-Kantilenen - und die sensationellen Gesangsstimmen von Casey Moir und Laurin Oppermann, die schnatternde Stimm-Akrobatik gegen klassisch anmutenden Kunstgesang setzen. Die Songs aus dem aktuellen Programm "When the birds upraise their choir": allesamt ein Vergnügen. Musik, die selbst Musiktheater ist. Früher am selben Tag war Luise Volkmann in einem ganz leisen Trio-Auftritt rund um eine Installation des Künstlers Gerhard Richter in der Dominikanerkirche zu erleben - und am Tag zuvor im Trio "3 Grams": Altsaxophon plus zwei Gesangsstimmen (Casey Moir und Michael Schiefel) mit ganz fein gearbeiteten Songs voller Humor und tieferem Ernst.
Viele spannende Momente hatte dieses Festival. Mit der ersten Trio-Begegnung der Pianistin Aki Takase, des Bassklarinettisten Louis Sclavis und des Schlagzeugers Han Bennink. Mit dem unfassbar ausdruckskräftigen und virtuosen Trio des österreichischen Trompeters Mario Rom. Mit zwei verschiedenen Projekten der englischen Trompeterin Laura Jurd - darunter dem Sextett "The Big Friendly Album" mit der kuriosen und überaus gelungenen Kombination der drei Blechblas-Instrumente Trompete, Euphonium und Tuba. Mit der wilden Band des norwegischen Schlagzeugers Paal Nilssen-Love und ihren Klängen völlig ungezähmter Schönheit. Mit der hochfeinen und sensiblen Trance-Musik des Trios Other:Mother um die österreichische Schlagzeugerin Judith Schwarz. Mit der lustvollen und musikalisch voller Hintersinn steckenden Begegnung der deutschen Schlagzeugerin Eva Klesse mit dem amerikanischen Pianisten Ethan Iverson („The Bad Plus“) und dem dänischen Bassisten Andreas Lang. Dem stimmungsvollen Tango der französischen Bandoneon-Spielerin Louise Jallu. Und nicht zuletzt mit der Jazz-Kammermusik des Pianisten Lucian Ban, des Klarinettisten und Sopransaxophonisten John Surman und des Bratschers Mat Maneri: Sie griffen in ihrem Programm "Transsylvanian Folk Songs" auf Melodien zurück, die vor über 100 Jahren der Komponist Béla Bartók in Transsylvanien gesammelt hatte, und führten sie in einen berührenden Jazz voller feiner und nie beschönigender Tongebungs-Nuancen über.
Solche Programme kommen zustande, wenn sich ein Festival-Leiter wirklich für Musik statt für große Namen interessiert. Nicht wahllos bunt, sondern gezielt farbenreich war dieser musikalische Jahresbeginn unter dem Himmel der tausend Lampen im Theater Münster. Die Programm-Dramaturgie war dabei mit so viel Fingerspitzengefühl entwickelt, dass das ganze Festival wie eine groß angelegte Komposition wirkte. Festivals an anderen Orten, zum Beispiel in Bayern, könnten sich eine Scheibe abschneiden von solch einer Programmgestaltung.
Sendung: Leporello am 11. Januar 2023 auf BR-KLASSIK